In Friedenszeiten wurde der ukrainische Weizen in den Häfen am Schwarzen Meer auf Massengutfrachter verladen. Zu 80 Prozent auf Panamax-Schiffe – so benannt, weil sie durch den Panamakanal passen mussten. Sie sind etwa 300 Meter lang, 32 Meter breit, mit einem Tiefgang von 12 Metern – und fassen 60.000 bis 80.000 Tonnen Mais oder Weizen. Wegen des russischen Angriffkriegs sind die Häfen blockiert. Auf dem Weltagrarmarkt fehlen zwölf Prozent im Angebot von Exportweizen – importabhängigen Ländern drohen Ernährungskrisen.
Für einen Bruchteil des Korns haben Händler inzwischen einen Weg über Polen gefunden. Jetzt müssten 80 Prozent des ukrainischen Weizens diese Route nehmen, sagte der russische Botschafter in Polen. Die Ostseehäfen Swinemünde und Gdingen haben die Schienenanbindung und die passenden Verladeterminals – aber wie der Betreiber OT Logistics der Agentur Bloomberg sagte, ist die Kapazität von 1,6 Millionen Tonnen pro Monat ausgelastet. Die Lagerbestände des Nachbarn – bis zu 25 Millionen Tonnen – verschiffen? Unmöglich.
So wird Polen für das Getreide zum Tor zur Welt – und zugleich zum Nadelöhr. Zwar werden verschiedene Landrouten für Lkw-Ladungen über Rumänien, Bulgarien, die Slowakei und Slowenien genommen. Aber auch das ist beschwerlich, die Infrastrukturen an den Grenzen und Umschlagstellen schnell überlastet, die Warteschlangen kilometerlang. „Wenn man in den nächsten Monaten 18 Millionen Tonnen Getreide aus dem Land bringen will, können Lkws mit jeweils 25 Tonnen nur unterstützend eingesetzt werden“, warnt der Chef des Verbands Der Agrarhandel in Hamburg, Christof Buchholz.
Solidaritätskorridore der EU
Denn das ist das Ziel: In den nächsten sechs Monaten sollen die Ausfuhrmengen von gegenwärtig etwa 1,5 Millionen Tonnen Weizen auf jeweils 3 Millionen Tonnen verdoppelt werden. So soll mit der Auslieferung alter Kontrakte in den Lagern der dringend notwendige Platz für die nächste Ernte geschaffen werden. „Wir sehen allerdings nicht, wie das geschafft werden kann“, sagt der Agrarhandelsexperte Buchholz.
Einen Vorschlag der EU-Kommission, wie gegen drohende Ernährungskrisen alternative Exportrouten organisiert werden können, haben nun erstmals die Agrarminister beraten. Auch danach scheinen die wohlklingenden „Solidaritätskorridore“ aber noch weit davon entfernt, Gestalt anzunehmen. Auch Bundeslandwirtschaftsminister Cem Özdemir betonte zwar die Bedeutung der Getreideausfuhren, damit Russlands Präsident Putin mit der Kriegswaffe Hunger keinen Erfolg haben werde. Über einen Appell zur raschen und unbürokratischen EU-Hilfe für die Anrainerstaaten der Ukraine hinaus, blieb er indes inkonkret.
So erntete auch Polen bei dem Treffen großen Dank, ebenso wie Brüssel für den vorgeschlagenen Aktionsplan. Die Hauptprobleme, die Experte Buchholz aber nennt, blieben außen vor: schleppende und übertriebene Kontrollen von Getreideladungen in Polen – und ein eklatanter Mangel an Koordination. „Wir haben volle Unterstützung der Mitgliedstaaten”, sagte Agrarkommissar Janusz Woiciechowski. „Felder werden bombardiert, aber die Landwirte bestellen die Felder. Wir haben eine Plattform eingerichtet, auf der Informationen und Maßnahmen ausgetauscht werden können.“
Wer koordiniert was?
An solchen Telefonkonferenzen hat auch Christof Buchholz teilgenommen. Aber es reiche nicht, nationale Ansprechpartner zu benennen, meint er, oder Cargo-Kapazitäten der Deutschen Bahn abzufragen. Könnte vielleicht die Binnenschifffahrt stärker mithelfen, um über Italien, über Triest, zu exportieren? Auch hierzulande sondiere sein Verband Kapazitäten für Transport, Umschlag und Zwischenlagerung. Es gibt Möglichkeiten, das Korn über die Häfen von Rostock, Kiel oder Hamburg weiter in die Länder Nordafrikas und in Nahost zu verschiffen, wo der Bedarf am dringendsten ist.
„Wenn aber niemand das alles koordiniert, passiert auch nichts“, sagt Buchholz. Noch nicht einmal eine nationale Koordinierungsstelle oder eine Stabsstelle sei eingerichtet. „Wir vermissen konkrete Vorschläge aus Berlin.“ Wohl hätten Özdemir und Außenamtschefin Annalena Baerbock vollmundig verkündet, alles für beschleunigte Exporte zu tun. „Aber niemand hat bislang Logistiker, Binnenschifffahrt, Spediteure oder Hafenbetreiber an einen Tisch geholt, um zu sehen: Was könnt ihr tun?“
Das größte Nadelöhr sieht der Verband gegenwärtig in den Grenzformalitäten der Polen – und weniger in den logistisch schwierigen unterschiedlichen Spurbreiten der Gleise. „Auf der Straße fehlen Lkws und Fahrer, auf der Schiene Zugmaschinen und Fahrer. Aber das größte Problem liegt in der Abwicklung an der ukrainisch-polnischen Grenze“, klagt Buchholz. Für jeden Waggon müssten Veterinärzertifikate vorgelegt werden, die bescheinigen, dass Güter frei von Salmonellen sind. Aber Getreide sei dafür eigentlich gar keine Risikoware. „Das verursacht lange Wartezeiten, Züge stehen bis zu zehn Tage lang.“
Unnötige Kontrollen
In Kontakt mit den polnischen Behörden hat der Dachverband versucht, zu verdeutlichen, wie unnötig die Kontrollen seien. Man versteht nicht, warum die Behörden nicht flexibler sind. Zumal auch die EU dabei sei, für ukrainische Güter Einfuhrzölle und Mengenquoten auszusetzen. Brüssel appelliert in seinem Aktionsplan auch an die Staaten, dringend alle Formalitäten zum Grenzübertritt zu vereinfachen. Die EU-Gesetzgebung erfordere keine veterinär- oder phytosanitären Zertifikate, heißt es sogar darin – weder für Importe noch für den Transit.
Letzteres hatten auch die deutschen Agrarhändler schon vorgeschlagen. Händler könnten Güter als Transitware deklarieren und entsprechend verplomben. Man wisse aber nicht, wer das durchsetzen könnte. Vor einer Woche haben sich Warschau und Kiew auf vereinfachte Verfahren für Getreideausfuhren verständigt. Das könnte Besserung in Aussicht stellen.
Auf der Schiene sind in der ersten Maihälfte immerhin knapp 770.000 Tonnen Getreide ihrer Bestimmung außerhalb der Ukraine nähergekommen, wie die staatliche Bahngesellschaft mitteilte – nach 642.000 im April. Auch DB Cargo, die das kriegsgeschundene Land mit Hilfsgütern versorgt, bringt mit den Töchtern in Polen und Rumänien auf dem Rückweg täglich einige Tausend Tonnen mit – und an diverse Seehäfen, heißt es in Kreisen des Konzerns.
Man arbeite auch daran, das Netzwerk mit anderen Verkehrsträgern, Privatbahnen, Spediteuren und Reedern auszubauen. In Abstimmung mit dem Bund – federführend für die Umsetzung der Solidaritätskorridore ist nun das Verkehrsministerium – will DB Cargo weitere Aufträge und Zugfahrten organisieren, sagt Spartenvorständin Sigrid Nikutta. Angesichts der drohenden Hungersnot übernehme der Konzern soziale Verantwortung. „Ziel sind tragfähige Verbindungen bis an die Seehäfen der Nordsee und des Schwarz- und Mittelmeeres.“
Normalerweise exportiert die Ukraine etwa fünf Millionen Tonnen Getreide im Monat. Die Häfen Mariupol, Cherson und Berdjansk stehen jetzt unter russischer Kontrolle, der Hafen von Mykolajiw ist schwer beschädigt. Solange dieser Zustand anhält, steht für den Handelsexperten Buchholz fest: Das meiste Getreide muss über ganze Züge transportiert werden. Allerdings sei da noch ein Problem: Viele Beteiligte scheuten das Risiko. Für Händler sei es problematisch, den Zugtransport auf ukrainischem Gebiet zu versichern. Deutsche und andere Versicherungen weigerten sich. „Nun wartet man auf die EU-Kommission, ob sie Sicherheitsgarantien geben kann.“