Exklusiv VW - Rücktritt der Aufräumerin

Christine Hohmann-Dennhardt war die erste Frau im VW-Vorstand – und ist jetzt schon wieder weg. Capital gab sie eins ihrer wenigen Interviews.
Christine Hohmann Dennhardt
Christine Hohmann Dennhardt
© Mario Wezel

Christine Hohmann-Dennhardt war Anfang der 90er-Jahre hessische Justizministerin, wurde 1999 Richterin am Bundesverfassungsgericht. 2011 wurde sie in den Daimler-Vorstand berufen, Anfang 2016 wechselte sie zu VW. Nach nur einem Jahr verlässt sie das Unternehmen wieder. Grund für die Trennung seien „unterschiedliche Auffassungen über Verantwortlichkeiten und die künftigen operativen Arbeitsstrukturen in ihrem Ressort“, teilte der Konzern mit.

Frau Hohmann-Dennhardt, vor einem Jahr machte die US-Umweltbehörde den Dieselbetrug bei Volkswagen bekannt. Wie haben Sie selbst diesen 18. September 2015 erlebt?

Ich war auf der Automobilmesse IAA, und wir hatten zu einer Daimler-Veranstaltung zum autonomen Fahren eingeladen. Später hatte ich noch den Bundeswirtschaftsminister am Messestand zu begrüßen, und dazwischen platzte diese Nachricht. Ich habe dann als Erstes meinen damaligen Kollegen aus der Forschung und Entwicklung angerufen.

Und Sie haben gefragt, ob es bei Daimler auch so ein Problem gibt?

Ja klar! Das hatte auch nichts mit Misstrauen zu tun. Das konnte man sich doch so gar nicht vorstellen. Und deshalb fragt man: Könnte so was hier auch möglich sein? Gibt es das hier? Oder kennt ihr so etwas? Könnt ihr mir das erklären? Was ist ein Defeat Device (Anm.: die Abschalteinrichtung, die im Zentrum des Dieselbetrugs steht)? Das wusste ich bis dahin nicht. Das haben mir dann die Daimler-Techniker dargestellt: dass es Veränderungen gibt, die unzulässig sind, und Veränderungen, die zulässig sind. Und dann gibt es noch Veränderungen, die im Prinzip unzulässig sind, aber genehmigt werden können.

Sie sind dann nahtlos von Daimler zu VW gewechselt. War Ihr Masterplan bereits fertig?

Der Masterplan entwickelt sich laufend fort. Ich kann kein abstraktes Ziel formulieren. Es muss ein Konzept sein, das zum Unternehmen und den Menschen hier passt. Ich muss ja alle mitnehmen. Für mich waren die ersten Wochen bei VW Learning by Doing und extrem intensiv. Die Erfahrungen bei meinem vorherigen Arbeitgeber haben mir den Einstieg aber durchaus erleichtert.

"Es geht uns vor allem um noch effektivere Arbeitsbedingungen"

Sie haben im VW-Vorstand den neu geschaffenen Bereich Integrität und Recht übernommen. Wie interpretieren Sie diese Funktion? Und wie weit reichen Ihre Zuständigkeiten?

Die vorhandene Rechtsabteilung und der Compliance-Bereich waren zuvor im Bereich des Vorstandsvorsitzenden aufgehängt. Der Konzern hat sich dann entschieden, ein eigenes Ressort zu schaffen. Weil diese Themen, wie auch ich meine, direkt an den Vorstandstisch gehören. Und das betrifft nicht nur die Dieselthematik. Es ist wichtig, dass es im Vorstand jemanden gibt, der diese Bereiche fulltime so aufstellt, dass sie bestens arbeiten können.

Das war demnach bislang nicht optimal? Was wollen Sie konkret verändern?

Das ist so nicht richtig. Auch vorher waren die Bereiche Recht und Compliance gut aufgestellt und in die Prozesse eingebunden. Es geht uns vor allem um noch effektivere Arbeitsbedingungen. Das Wichtigste ist meiner Ansicht nach, dass unsere Abteilungen nicht nur schon sehr frühzeitig in die Entscheidungsprozesse mit eingebunden werden, sondern diese auch weiterhin aktiv mitgestalten.

Eigentlich wollten Sie Ex-FBI-Chef Louis Freeh zu VW holen. Das hat der Betriebsrat abgeschmettert. Freeh hatte als US-Vertreter die Aufarbeitung des Schmiergeldskandals bei Daimler an Ihrer Seite überwacht. Wie treten Sie nun gegenüber den US-Behörden auf, die den Dieselbetrug juristisch verfolgen?

Mein Vorstandskollege Garcia Sanz verantwortet die Gesamtthematik. Es gibt auf verschiedenen Ebenen teilweise mehrfach wöchentlich Verhandlungen, die im Vorstand auch immer intensiv vor- und nachbesprochen werden.

VW hat die US-Kanzlei Jones Day beauftragt, die internen Ermittlungen zu übernehmen. Wie geht die vor?

Im Auftrag des Aufsichtsrats ist ein aus deutschen und amerikanischen Juristen bestehendes Team der Kanzlei tätig. Die führen Interviews und arbeiten sich durch die Unterlagen. Wir sprechen hier von Datenmengen, die rund 50 Millionen Büchern entsprechen – aus über zehn Jahren! Diese Daten lassen sich nicht alle vollständig durchsehen, sondern werden nach bestimmten Stichworten durchforstet. Dann führen die Anwälte Interviews mit Hunderten von Personen. Daraus ergeben sich wieder neue Erkenntnisse und Stichworte, nach denen weitergeforscht wird, um dann weitere Interviews zu führen. Das alles ist langwierig und aufwendig. Nichts wird unter den Teppich gekehrt! Vielleicht können Sie sich jetzt vorstellen, dass das nicht von heute auf morgen gehen kann?

Wie ist nun der Stand der Untersuchungen?

Jones Day arbeitet völlig unabhängig und berichtet an das US-Justizministerium. Zudem gibt es Zwischenunterrichtungen an den Aufsichtsrat.

Zwischenetappe erreicht

Rechnen Sie damit, dass die US-Behörden ähnlich wie im Fall Daimler auch bei VW einen Aufpasser installieren werden? Das wäre ja auch eine Präventionsmaßnahme.

Man darf nie irgendetwas ausschließen, solange es insgesamt keinen Abschluss von Verhandlungen gibt.

Wo stehen Sie denn jetzt in den Verhandlungen? Wie viel ist schon geschafft?

Wir haben eine Zwischenetappe erreicht, wenn auch eine durchaus wichtige: Die Vereinbarung zum Vierzylinder mit den Sammelklägern in den USA, mit den Umweltbehörden EPA und CARB und mit Staatsanwaltschaften der meisten US-Bundesstaaten ist auf einem sehr guten Weg. Die Gespräche mit den Behörden sind sehr konstruktiv. Zum Inhalt haben wir aber Stillschweigen vereinbart.

Daneben laufen zahlreiche weitere Verhandlungen und Klagen, nicht nur in den USA, sondern weltweit. Die in Aussicht gestellten Zahlungen von VW an die Kunden und Regierungsstellen in den USA über insgesamt 15 Mrd. Dollar wecken auch in anderen Teilen der Welt Begehrlichkeiten. Glauben Sie, dass der Konzern das finanziell stemmen kann?

Sie werden verstehen, dass ich das nicht kommentieren kann.

Können Sie denn sagen, wie Sie die Aussichten für Sammelklagen in Europa einschätzen?

Ich bitte um Verständnis, dass wir uns mit Blick auf die laufenden Verfahren dazu wirklich nicht weiter äußern.

Können Sie denn etwas zum Zeitplan sagen? Wann wird der ganze Fall abgeschlossen sein – im besten und im schlimmsten Fall?

Herr Osterloh (Anm.: der Betriebsratsvorsitzende und Aufsichtsrat) hat ja in einem Interview gesagt, er rechne mit spätestens 2018. Wir werden sehen, ob bis dahin die meisten relevanten Streitigkeiten und Verfahren in allen Ländern beigelegt sind.

"Wir brauchen Offenheit und Kritikkultur"

Sie müssen den Dieselbetrug aufarbeiten und zugleich dafür sorgen, dass so etwas nicht mehr vorkommt. VW-Chef Matthias Müller setzt auf einen Mentalitätswandel. Wie kann das gelingen?

Wir müssen uns natürlich fragen: Was lernen wir? Welche Konsequenzen ziehen wir? Wo gab es gegebenenfalls Schwachstellen? Auf Bitten von Herrn Müller kümmere ich mich auch um Governance-Themen und schaue mir insgesamt die Strukturen im Konzern an. Wir fragen uns: Wie sind unsere Prozesse beispielsweise in der Entwicklung? Ganz konkret bin ich gerade dabei, die Umsetzung unseres neu ausgerichteten Hinweisgebersystems abzuschließen.

VW hatte doch schon ein Whistleblowersystem?

Ja. Das war bei der Revision angegliedert und funktionierte auch gut. Meines Erachtens gehört es aber in den Compliance-Bereich. Da sind wir uns auch einig. Und auch da muss man natürlich hinterfragen: Wie sieht das Verfahren aus?

Was schauen Sie sich da an?

Man kann sich immer anschauen, wie häufig so ein System benutzt wurde und warum es von bestimmten Bereichen und Abteilungen eben nicht benutzt wurde. Das ist dann der Knackpunkt! Da muss man nachhaken und fragen: Woran liegt es? Liegt es vielleicht auch daran, dass die Leute sich dem System nicht anvertrauen? Ist eindeutig, wie die Verfahren sind, welche Rechte Whistleblower haben und welche die Betroffenen? Und: Wenn sich erfahrungsgemäß nur etwa die Hälfte der Meldungen als richtig erweisen, was ist dann mit den Falschmeldungen? Wie werden Mitarbeiter geschützt, die vielleicht zu Unrecht verdächtigt und interviewt werden?

Welche Stimmung nehmen Sie überhaupt unter den VW-Mitarbeitern wahr?

Natürlich ist die Aufdeckung der Abgasprobleme auch ein Jahr nach Bekanntwerden ein Thema, das hier vieles überschattet. Die Leute reden darüber. Das ist zunächst richtig und gut so. Manche sind bedrückt und erzählen, dass sie sich nicht mehr trauen zu sagen, dass sie bei VW arbeiten. Dabei haben sie das vorher mit Stolz gesagt. Andere sind eher trotzig und schauen nach vorn. Deshalb dürfen wir nicht allein in der Aufarbeitung der Vergangenheit versinken. Wir müssen unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter auch auf die Reise in die Zukunft mitnehmen. Und wir möchten, dass sie sich melden, wenn es irgendetwas gibt. Diese ­Offenheit und Kritikkultur brauchen wir. Überall im Unternehmen – vom Vorstand bis zu den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in den Fabrikhallen.

"Ich trete für Frauenrechte ein"

Da kommen Sie als Neuling vom Wettbewerber, noch dazu als erste Frau in den Vorstand, die sich mit einem neuen Zuständigkeitsbereich in alles einmischen will. Stoßen Sie mit so viel Provo­kation nicht auf völlige Abwehr?

Das mag von außen vielleicht so wirken. Aber Matthias Müller hat mir wirklich sehr geholfen. Ohne die Gespräche, die ich mit ihm geführt habe, hätte ich auch gar nicht zugesagt. Er hat mich überzeugt hierherzukommen. Er ist ein Teamplayer. Die Vorstandsmitglieder sitzen nicht nur in den regulären Vorstandssitzungen zusammen und sprechen zwischendurch in Telefonkonferenzen, sondern wir nehmen uns regelmäßig, meistens freitags, viel Zeit für Diskussionen, um die richtigen Entscheidungen zu treffen.

Sie wurden in Porträts als linke Feministin bezeichnet. Wie hinderlich ist das in einem männer­dominierten, konservativ geprägten Konzern?

Ich empfinde Feministin nicht als Schimpfwort. Ich trete für Frauenrechte ein und für Gleichberechtigung und mache daraus keinen Hehl. Warum auch? Das ist das eine. Zum anderen bin ich seit vielen Jahren Mitglied der SPD, eingetreten unter Willy Brandt und nie ausgetreten. Ich habe mich da je nach Thematik häufig an Rändern vorgefunden, wo ich mich selbst nicht unbedingt sah: Mal ganz links, und ganz rechts war ich auch schon – innerhalb der SPD, mit meiner Position zu Blauhelm-Einsätzen etwa. Ich habe immer gedacht, dass ich einen geraden Weg verfolge, und meine das auch immer noch.

Sie sind dabei, den Dieselbetrug aufzuarbeiten und gründlich im VW-Konzern aufzuräumen. Mittendrin eskalierte jüngst der Streit mit zwei Zulieferern: Die haben nicht mehr geliefert, VW konnte nicht weiterproduzieren. Davon waren 28.000 Mitarbeiter betroffen, es drohte Kurzarbeit. Resignieren Sie nicht angesichts solcher Rückschläge?

Ich glaube, wenn man wegen solcher Dinge resigniert, ist man fehl am Platz. Man kann vielleicht manchmal etwas fluchen. Aber dann geht es daran, die Dinge aufzuarbeiten und zu schauen, was dahintersteckt. Welche Strategien hat die Gegenseite, und wie gehen wir die Sache an? Das ist schwierig genug.

"Es geht um die richtigen Strukturen und Prozesse"

VW hat den Zulieferfirmen vor der Einigung mit Vollstreckung, Ordnungsgeldern und Ordnungshaft gedroht. Das klang drastisch. Sind das die neuen Saiten, die Sie jetzt als Rechtsvorstand aufziehen?

Nein, das sind keine neuen Saiten. Gegen den Lieferstopp mussten wir uns mit den gebotenen rechtsstaatlichen Mitteln zur Wehr setzen. Es ging um nicht weniger als die vertragsgemäße Versorgung mit Bauteilen seitens der Zulieferer. Bei uns standen die Bänder still, und die Leute hatten zwischenzeitig keine Arbeit. Das war aus meiner Sicht seitens der Zulieferer sehr verantwortungslos. Das Landgericht Braunschweig hat unserer Klage übrigens vollumfänglich entsprochen.

Sie haben eine Woche miteinander verhandelt, dann eine Einigung erzielt, ohne Details zu nennen. Nach außen wirkt es aber auch wie ein Exempel, bei dem VW versucht, seine Macht auszuspielen und die Kosten zu drücken. Wie massiv ist der Imageschaden?

Es ist verständlich, dass uns an der einen oder anderen Stelle Misstrauen oder sogar Häme entgegenschlägt. Aber ich verstehe nicht, wie man darauf kommen kann, dass wir die Auseinandersetzung mit den Zulieferern provoziert haben! Da hieß es gleich: Ja klar, nach ihrem Dieselskandal drücken sie jetzt die Preise. Und der arme Zulieferer muss bluten. Da wurden sehr pauschal Schlüsse gezogen, bei denen man sich fragt, woher die Leute das ohne Kenntnis des konkreten Sachverhalts eigentlich haben? Diesen generellen Trend in der Wahrnehmung von Volkswagen müssen wir aber akzeptieren. Und vor allem müssen wir Konzepte entwickeln, um da wieder rauszukommen und klarzumachen, wofür dieses Unternehmen und diese Belegschaft wirklich stehen.

Kommt man nicht irgendwann zu dem Schluss, dass ein Konzern dieser Größenordnung einfach auf Dauer nicht mehr beherrschbar ist?

Ich glaube, „beherrschbar“ ist nicht der richtige Begriff. Ein solcher Konzern lebt und funktioniert nicht nur dadurch, dass da oben neun Vorstände sitzen und die Organisation „beherrschen“. Es geht auch um die richtigen Strukturen und Prozesse. Aber auch um die Art und Weise, wie wir in der Organisation zusammenarbeiten. Wir können uns das nur strukturiert anschauen und immer wieder nachfragen: Funktioniert das richtig? Stimmt der Rahmen, den wir setzen? Und wir müssen die richtigen Signale setzen, Integrität vorleben und viel Überzeugungsarbeit leisten. Das kann ich nicht mit 610.000 einzelnen Mitarbeitern machen. Aber ich kann dafür sorgen, dass Diskussionen geführt werden. Es ist uns ernst damit, nicht nur in irgendeine Richtlinie zu schreiben, dass wir uns eine Unternehmenskultur wünschen, die auf Integrität baut. Dafür müssen wir permanente Überzeugungsarbeit leisten.

Das Interview ist zuerst in Capital 10/2016 erschienen

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