Porträt Thyssenkrupp - Mission Impossible für Martina Merz

Martina Merz ist seit Oktober 2019 Thyssenkrupp-Chefin. Ihr bleibt nicht viel Zeit, um den Industriekonzern flott zu machen
Martina Merz ist seit Oktober 2019 Thyssenkrupp-Chefin. Ihr bleibt nicht viel Zeit, um den Industriekonzern flott zu machen
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Martina Merz hat den schwierigsten Job der deutschen Wirtschaft: Die Thyssenkrupp-Chefin muss den angeschlagenen Traditionskonzern retten. Viel Zeit hat sie dafür nicht, es bleiben ihr noch acht Monate

Zugegeben, auf Anhieb denkt man nicht direkt an Tom Cruise, wenn man Martina Merz sieht. Klassisches Businessoutfit, Halstücher, eine leichte Vorliebe für Stehkragen und helle Farben, randlose Brille – die Chefin des Stahl- und Technologiekonzerns Thyssenkrupp wirkt nicht gerade wie ein Action Held. Und doch wird man den Gedanken nicht mehr los, wenn man sich näher mit ihr beschäftigt: Eine schier unmögliche Mission – und wenn sie scheitert, werden ihre Auftraggeber jede Verwicklung abstreiten. Das ist ziemlich genau der Job von Martina Merz – und sie hat ihn angenommen.

An diesem Freitag wird Merz den Aktionären von Thyssenkrupp erstmals Rede und Antwort stehen . Sie wird erklären müssen, wie sie diese deutsche Industrieikone – knapp 42 Mrd. Euro Umsatz im letzten Geschäftsjahr bis Ende September 2019, mehr als 161.000 Mitarbeiter weltweit – aus der Dauerkrise herausführen will. Die Zahlen sprechen erstmal gegen sie: Gerade mal 5 Mrd. Euro operativer Gewinn in sechs Geschäftsjahren, knapp 1,8 Mrd. Euro Verlust nach Steuern seit 2013, dafür ein Ballast von 6,5 Mrd. Euro Schulden und noch mal fast 9 Mrd. Euro an Pensionsverpflichtungen – und nur noch 2,2 Mrd. Euro Eigenkapital, allein 2019 ein Minus von mehr als 30 Prozent. Das nennt man wohl eine Mission impossible.

Wer also ist die Frau, die sich diesen Job zutraut – oder die zumindest den Mumm hatte, sich in die Pflicht nehmen zu lassen, nachdem alle anderen (ausschließlich Männer) im vergangenen Sommer abgewunken hatten? Formal ist die Frage leicht zu beantworten: Merz hat bereits eine eindrucksvolle Karriere absolviert, vor allem im Umfeld des Zulieferkonzerns Bosch, und zudem eine zweite als Beraterin und professionelle Aufsichtsrätin. So rückte sie erst im Februar 2019 überhaupt an die Spitze des Aufsichtsrates von Thyssenkrupp, acht Monate später schließlich wurde sie überraschend Vorstandschefin, nachdem sich ihr Vorgänger Guido Kerkhoff (selbst unter turbulenten Umständen für gerade mal 14 Monate im Amt) mit den wichtigsten Eigentümern des Konzerns überworfen hatte.

Nur ein Jahr Zeit

Es ist eine der verblüffendsten Fälle der Machtergreifung, bei der eine weitgehend unbekannte Frau aus dem Hintergrund in kurzer Zeit bis in die erste Reihe vordringt, um einen Traditionskonzern aus einer kritischen Situation zu befreien. „Die Probleme sind hausgemacht, deshalb können sie auch im Haus gelöst werden“, sagt Merz nüchtern. Es gehe nicht darum, über neue Prozesse zu entscheiden, sondern lediglich um eine konsequente und zügige Umsetzung. „Ich komme aus dem Operativen und kann zur Beschleunigung beitragen.“ Das sei das Geheimnis des Erfolges: „Ein ständiges Dranbleiben – jeden Tag“, sagt sie.

Menschen, die nun seit sechs Monaten mit ihr zusammenarbeiten oder ihr Vorgehen erleben, bestätigen die Akribie und Ernsthaftigkeit, mit der sich Merz in ihren Job stürzt. Sie drehe jeden Stein und jedes Blatt um, berichten Zeugen, vergrabe sich tief in alle Details. Doch in der allgemeinen Anerkennung schwingt auch eine gehörige Skepsis mit – denn die Zeit ist knapp, für den Konzern und für Merz selbst. Ihre Amtszeit ist aktuell auf ein Jahr befristet, in dieser Zeit will sie eigentlich alle wichtigen Entscheidungen zur Zukunft von Thyssenkrupp getroffen haben, um anschließend wieder in den Aufsichtsrat zurückwechseln zu können. Und von diesen zwölf Monaten ist ein gutes Drittel schon wieder vorbei.

Merz stand nie im Mittelpunkt des öffentlichen Interesses, deshalb wird sie nun besonders intensiv taxiert, alle Details ihres Auftritts bewertet, jede Aussage analysiert. Allerdings hat sie noch keine Strategie präsentiert: raus aus dem lukrativen Aufzuggeschäft, wieder voll rein in das volatile Stahlgeschäft? Eigentlich sollte der grundsätzlich bereits beschlossene und so dringend benötigte Verkauf der Aufzugsparte schon fixiert sein, aber der Verkauf zieht sich: Merz nimmt sich Zeit. Sie trotzt dem öffentlichen Druck und vertraut dafür auf ihr Fähigkeiten – und ihr eindrucksvolles Netzwerk, das sie erst in diese Position befördert hat.

Ruhe bei Thyssenkrupp

Thyssenkrupp-Zentrale in Essen
Thyssenkrupp-Zentrale in Essen (Foto: dpa)
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Die Ruhe, die sie trotz der dramatischen Lage des Konzerns umgibt, ist umso erstaunlicher, da sich bei Thyssenkrupp einst immer jemand fand, der Gefallen an einer Indiskretion fand: Da wurden Kandidaten für die Topposten im Aufsichtsrat und Vorstand vorab verunglimpft, Details über Verkauspläne ausgebreitet, Forderungen der mächtigen Gesellschafter Cevian und der Krupp-Stiftung ventiliert. Doch seit Merz die Fäden zieht, ist es still geworden. Selbst die Vertreter des Arbeitnehmerlagers, die sich kritisch mit der Unternehmensführung auseinandersetzen müssen, sind ungewohnt verschlossen.

Merz gelingt offenbar ein seltenes Kunststück: Sie hat alle Beteiligten im Griff. Selbst ein wohlgesonnener Managerkollege, der sich „nicht nur als Kollege, sondern auch als Freund von Martina Merz bezeichnen würde“ und von ihr schwärmt, möchte nicht über sie sprechen. „Das Nicht-Öffentliche ist Teil ihrer Marke“, erklärt er lediglich. Merz stellt sich selbst nicht dar und verbietet es, sich darstellen zu lassen. Es gehe nicht um sie, sondern um das Unternehmen.

Ein Zugpferd der Frauenbewegung ist Merz, die sich immer in Männerdomänen behaupten musste, nie gewesen. Vielmehr war sie oft Einzelkämpferin. In den 70er-Jahren wechselte sie von der Realschule im baden-württembergischen Tuttlingen auf ein technisches Gymnasium in Villingen-Schwenningen, studierte anschließend Maschinenbau und Fertigungstechnik an der Berufsakademie in Stuttgart. Die Anfänge der mächtigsten Managerin Deutschlands ähneln so gar nicht den üblichen Lebensläufen in deutschen Chefetagen: Kein Internat, keine Eliteuniversität, kein Auslandsaufenthalt.

Sie war bei Bosch der einzige Mann im Topmanagement
Ein Freund

Sie sei ein „ganz gnadenlos praktischer Mensch“, sagt einer ihrer ehemaligen Kollegen bei Bosch, wo sie fast die ganze Zeit ihres Berufslebens verbrachte und die Karriereleiter steil nach oben kletterte. Von „Schwätzern“ halte sie gar nichts und als Tüftlerin habe sie geradezu „perfekt zu Bosch gepasst“. Im obersten Führungskreis des Unternehmens gehörte Merz lange Zeit zu den ganz wenigen Frauen unter fast 250 Männern. Einer ihrer Freunde meint dazu gar süffisant: „Sie war bei Bosch der einzige Mann im Topmanagement.“

Merz war Ende 40 als ihre damaligen Bosch-Chefs ihr den Zutritt zu einem der illustresten Elite-Zirkel der deutschen Wirtschaft gewährten: den Baden-Badener Unternehmer Gesprächen (BBUG). Dieses exklusive Netzwerk, das die Namen seiner Teilnehmer nicht veröffentlicht, nimmt nur Kandidaten auf, die die „erkennbare Eignung“ mitbringen, „in absehbarer Zeit“ in den Vorstand aufzurücken. Diese angehenden Spitzenkräfte der deutschen Wirtschaft werden seit den 50er-Jahren im schmucken „Palais Biron“ in Baden-Baden in einer dreiwöchigen Klausur mit strenger Anwesenheitspflicht auf ihre zukünftige Verantwortung in Wirtschaft und Gesellschaft vorbereitet.

Danach unternimmt jeder Jahrgang jedes Jahr gemeinsame mehrtätige Exkursionen. Sie gehört zum 130. BBUG-Kreis, der im Frühjahr 2012 zusammenkam. Zu dieser kleinen, vertrauten Truppe, in der sich alle duzen, gehört auch Ola Källenius, der im Mai 2019 zum Daimler-Chef gekürt wurde. Im gleichen Jahr stürmte auch Merz an die Spitze von Thyssenkrupp.

Diverse Aufsichtsratsposten

Martina Merz mit ihren Vorstandskollegen bei der Bilanz-Pressekonferenz im vergangenen Herbst
Martina Merz mit ihren Vorstandskollegen bei der Bilanz-Pressekonferenz im vergangenen Herbst (Foto: Thyssenkrupp)
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Das Jahr 2012 war auch in anderer Hinsicht einschneidend für Merz: Bosch verkaufte die Bremssparte (Chassis Brakes), bei der sie in der Geschäftsführung saß, an den US-Finanzinvestor KPS Capital Partners. Merz ging mit und übernahm den CEO-Posten in den Niederlanden. So hatte sie es zehn Jahre zuvor schon einmal exerziert, als Bosch 2002 die Türschlösserfertigung an das Familienunternehmen Brose abgab. Auch dort war Merz als Geschäftsführerin an Bord geblieben. Erst nach vier Jahren kehrte sie zu Bosch zurück. Doch noch einmal wollte sie diesen Weg nicht gehen. Nach zweieinhalb Jahre kündigte sie bei Chassis Brakes – ohne Rückfahrschein nach Stuttgart.

Offiziell verließ sie das Unternehmen 2015, um „andere Karrierepläne zu verfolgen“. Doch auf einen Vorstandsposten in der deutschen Wirtschaft kletterte die BBUG-Alumna erst mal nicht. Stattdessen übernahm sie einen Aufsichtsratsposten nach dem anderen von Lufthansa über Volvo und den LKW-Zulieferer SAF Holland bis zum belgischen Stahldrahtspezialisten Bekaert und dem französischen Baustoffhersteller Imerys.

Dabei dürfte sich ihr Baden-Badener-Netzwerk durchaus ausgezahlt haben: Denn bei der Lufthansa sitzt Karl-Ludwig Kley an der Spitze des Kontrollgremiums. Der einflussreiche Strippenzieher ist seit zehn Jahren auch BBUG-Präsident und damit einer der wichtigsten Türöffner für die Topshots. Merz hat er zu einem neuen Profil verholfen: Als professionelle Multiaufsichtsrätin gehört sie zu den Prototypen, die als unabhängige, externe Spezialisten mehr Kompetenz in die Gremien einbringen sollen. Ihren Beitrag für die Lufthansa schätzt Kley heute offenbar so sehr, dass er ihr laut „Manager Magazin“ genehmigt haben soll, an den Sitzungen auch per Videokonferenz teilzunehmen, seit sie bei Thyssenkrupp auf dem Chefposten eingesprungen ist.

„Hohe technische Kompetenz“

Dort hat sie seit ihrem Antritt, ebenfalls Anhänger, die das Know-how der Ingenieurin loben. Einer ihrer Unterstützer im Aufsichtsrat von Thyssenkrupp verweist auf ihre Erfahrung bei Volvo, wo sie als Mitglied des Transformationsteams im Management-Board mitverantwortlich für den Umbau des schwedischen Konzerns zeichnete und einen „sehr guten Job“ gemacht habe. Aus dieser Zeit stammt auch der Kontakt zum schwedischen Thyssenkrupp-Großaktionär Cevian, der bis 2017 einen Anteil an Volvo hielt.

Ein unabhängiger Thyssenkrupp-Aufseher schätzt ihre „hohe technische Kompetenz“: Sie gehe sehr sachlich und sehr methodisch an die schwierige Lage in Essen heran. Allerdings komme sie manchmal etwas „schnippisch“ im Umgang mit Managern herüber, die nicht gleich auf ihrer Linie liegen. Sie sei jedenfalls jemand mit der „Fähigkeit zum offenen Wort“, heißt es dazu im Aufsichtsrat.

Einer ihrer Kollegen aus einem anderen Aufsichtsrat bestätigt, dass Merz mit Arbeitgebervertretern genauso gut könne wie mit Arbeitnehmervertretern. Das „sei ein Spagat, der wenigen gelingt“.

Verkauf der Aufzugssparte

In Rottweil hat Thyssenkrupp einen Testturm für Aufzüge gebaut. Die Sparte ist erfolgreich und soll verkauft werden
In Rottweil hat Thyssenkrupp einen Testturm für Aufzüge gebaut. Die Sparte ist erfolgreich und soll verkauft werden (Foto: dpa)
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Wenn sie die Rolle als Aufsichtsrätin wirklich so mustergültig ausfüllt, warum wechselt sie dann auf so einen Schleudersitz wie den CEO-Posten bei Thyssenkrupp? Ist es der Ehrgeiz, einmal bis zur Vorstandsetage durchzustoßen, zu dem die Zöglinge des Baden-Badener Elite-Zirkels motiviert werden? „Pflichtbewusstsein ist meine persönliche Motivation“, sagt Merz bei ihrer Antrittsrunde im Oktober 2019. Sie habe die Themen zuvor ja schon sechs Monate aus dem Aufsichtsrat heraus beobachten können. „Deshalb war das eine leichte Entscheidung für mich. Ich hätte den Job nicht angetreten, wenn ich nicht davon überzeugt wäre, dass das Unternehmen eine Zukunft hat.“ Eine Gruppe von Aufsichtsräten habe die Idee an sie herangetragen, den CEO-Posten zu übernehmen. „Ich habe ein Wochenende lang überlegt“, sagt Merz.

So schnell wie sie die Entscheidung getroffen hat, will sie auch bei Thyssenkrupp das Tempo beschleunigen. „Die Perfomanceleistung wird hochgefahren“, betonte Merz bei einem ihrer wenigen öffentlichen Auftritte seit Amtsantritt. Das Hauptproblem sei gewesen, dass Projekte nicht bis zum Schluss konsequent, transparent und zügig umgesetzt worden seien. „Da müssen wir Vertrauen zurückgewinnen. Das ist meine Priorität“, sagt Merz.

Der Verkauf der Aufzugsparte – ganz oder teilweise – ist der erste Meilenstein, den sie schaffen muss. 15 bis 20 Mrd. Euro könnte ein kompletter Verkauf erlösen, genug Geld, um die Schuldenlast zu senken und in die verbleibenden Sparten des Konzerns zu investieren. Für all das hat sie noch bis zum 30. September Zeit. Dann läuft ihr Vertrag schon wieder aus. Man möchte ihr wünschen, wie in den Streifen mit Tom Cruise, dass sie es hinbekommt.

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