Als Journalist ist man mit Urteilen und Wertungen ja schnell bei der Hand, sie gehören quasi zu den Grundqualifikationen unseres Jobs: „Armutszeugnis“ schreiben wir dann, geißeln einen „beispiellosen Vorgang“ und bis zum „Scheitern auf ganzer Linie“ ist es dann auch nicht mehr besonders weit. So in etwa tönte es auch in dieser Woche von links und rechts, als bekannt wurde, der Bundesfinanzminister hole sich jetzt den Bundeskanzler zur Hilfe, um renitente Kabinettskollegen einzunorden.
Nun muss man mit Christian Lindner kein großes Mitleid haben, er ist ja selbst nicht gerade zimperlich, wenn es um Wertungen und Urteile geht. Und es ist ja auch richtig, dass der Finanzminister qua Amt eigentlich die Argumente und die Durchsetzungskraft haben sollte, um aus einmal in einer Koalition beschlossenen Eckpunkten einen ordentlichen Bundeshaushalt zu machen. Nicht so Lindner offensichtlich – und das kam tatsächlich noch nicht oft vor. Es ist also schon richtig: Ein starker Finanzminister bräuchte wahrscheinlich nicht die Unterstützung des Bundeskanzlers.
Die Ampelkoalition hat ihren Kompass verloren
Nur: Es gehört zum Zustand dieser Koalition nach den vergangenen drei Monaten – nach Trauzeugen-Affäre, nach Verbrenner-Streit, Autobahn-Ausbau und nach dem Hickhack um E-Fuels –, dass es im Streit ums Geld um mehr geht als um ein paar Milliarden. SPD, Grüne und Liberale haben für die kommenden zweieinhalb Jahre bis zur nächsten Bundestagswahl offensichtlich ihren Kompass komplett verloren, was sie noch wollen und wie sie dies zu erreichen gedenken.
Worum geht es?
Lindner pocht darauf, dass der nächste Bundeshaushalt wieder die Vorgaben des Grundgesetzes einhält. Das steht so im Koalitionsvertrag und wurde auch im Sommer letzten Jahres noch einmal mit einem Kabinettsbeschluss zum aktuellen Haushalt bestätigt.
Unter dieser Voraussetzung darf der Bund ab dem kommenden Jahr nur noch 15 bis 17 Mrd. Euro an neuen Schulden pro Jahr aufnehmen. Zum Vergleich: In diesem Jahr plant der Bund noch mit etwa 100 Mrd. Euro an neuen Schulden. Die Ausgaben müssen also kräftig runter, zumal die Einnahmen anders als bis zur Pandemie auch nicht mehr einfach vom Himmel regnen und jedes Jahr selbst die optimistischsten Annahmen übertreffen: von knapp 450 in diesem Jahr auf etwa 420 Mrd. Euro im nächsten Jahr. Dieser Wert ist unbequem, aber eigentlich unstrittig – was Lindners Kolleginnen und Kollegen im Kabinett aber nicht davon abhält, jeweils für ihr Ressort doch noch eine Ausnahme durchsetzen zu wollen.
Widerstand auch aus der FDP
Zur Begründung kann Lindner zwar auf internationalen Sachverstand verweisen, etwa die neue Chefökonomin der OECD. Oder schlicht auf die Fakten: Statt 4 Mrd. Euro für Zinsen im Jahr 2021 muss der Bund schon wieder mit bis zu 40 Mrd. Euro an Zinsausgaben rechnen, dem rasanten Zinsanstieg und einer verpatzten Schuldenaufnahme seines Amtsvorgängers sei Dank. Insofern ist es vielleicht auch nur gerecht, dass Scholz jetzt mithelfen muss, den Etat wieder in Ordnung zu bringen.
Doch obwohl diese Rahmendaten für alle offensichtlich sind, hat es der zuständige Minister bisher nicht vermocht, die Koalition von seinem Kurs zu überzeugen. Der Widerstand regt sich in allen Parteien, sogar in Lindners eigener – was den FDP-Chef tatsächlich recht schwach erscheinen lässt. Zwischen den Möglichkeiten im Rahmen des Grundgesetzes und den Vorstellungen seiner Kabinettskollegen klaffe eine Lücke von gut 20 Mrd. Euro, heißt es aus Lindners Ministerium.
20 Milliarden sind keine Kleinigkeit – aber auch kein Ding der Unmöglichkeit. Zumal sich diese Koalition so viele Schattenhaushalte eingerichtet hat, dass sich auch in den kommenden Jahren noch viele Milliarden jenseits des offiziellen Haushalts werden auftreiben lassen. Größer ist dagegen inzwischen die Kluft bei der Frage, was diese Koalition überhaupt noch will. Unter maßgeblicher Beteiligung von Parteifreunden Lindners sind die Konflikte zwischen Liberalen und Grünen auf ein Maß hochgekocht, dass inzwischen kein gesunder Ausweg mehr erkennbar ist.
Die Koalition braucht einen Neustart
Mehr noch: Über ihr hektisches, im Großen und Ganzen aber richtiges Krisenmanagement im ersten Regierungsjahr, das eben auch ein Kriegsjahr war, ist der Koalition jene Welt abhanden gekommen, für die sie eigentlich ihren Koalitionsvertrag ersonnen hatte: große Investitionen in die Energie- und Verkehrsinfrastruktur des Landes, finanzier- und vermittelbar dank niedriger Zinsen; ein massiver Zubau neuer Wohnungen; mehr Geld für die Digitalisierung – ja, vieles im Programm der Ampelkoalition klang Ende 2021 richtig, sinnvoll und notwendig. Und war doch gemacht für eine Welt und eine Wirtschaft, die weiterwächst, die Mut hat, Neues zu wagen und die vor allem unter Bedingungen läuft, die das alles möglich macht. Eine Welt ohne Krieg, ohne hohe Inflation, ohne hohe Zinsen und ohne Rezession.
Nun hat sich die große Transformation der Wirtschaft verkeilt zwischen Heizungsrohren, Zapfsäulen und 20 Milliarden. Lindner hat Recht, auf seiner Linie beim Haushalt zu bestehen. Wichtiger aber sind die anderen Baustellen der Koalition – und da wird auch er sich bewegen müssen. Es geht inzwischen um nicht weniger als einen Neustart dieser Regierung.