Als Nazim Salur im Sommer 2021 seine erste Deutschland-Filiale einweiht, gibt er sich noch kampflustig. „Wir werden überall da sein, wo es auch Pizza-Lieferdienste gibt“, sagte der Chef des türkischen Schnell-Lieferdienstes Getir damals im Interview mit Capital. Binnen zwei Jahren wolle er Getir in zehn deutsche Metropolen bringen, danach sollten weitere Kleinstädte folgen.
Drei Jahre später ist klar: Die große Deutschland-Offensive wird wohl nie kommen. Laut einem Bericht der „Wirtschaftswoche“ bereitet Getir seinen Marktausstieg aus allen Auslandsmärkten vor: Schon am 15. Mai soll demnach in Deutschland Schluss sein. Einige der 1800 Angestellten in Deutschland sollen laut Bericht bereits Anfang dieser Woche eine Kündigung erhalten haben. Die Warenlager sollen in den verbliebenen drei Wochen nach und nach geschlossen werden. Ein Sprecher von Getir teilte auf Anfrage von Capital mit, dass sich das Unternehmen „zu Marktgerüchten“ nicht äußere.
Getir gilt in der Branche als Erfinder des Zehn-Minuten-Versprechens: Das Unternehmen aus Istanbul bringt Lebensmittel und Drogerieprodukte per App-Bestellung in Minuten an die Haustür. Die Firma sammelte so viel Wagniskapital wie kein anderes Lieferdienst-Unternehmen ein. Ende 2022 schluckte es den strauchelnden Konkurrenten Gorillas. Für den dürfte nun allerdings auch Schluss sein. Das Unternehmen hatte sich bis zuletzt noch eine Doppelstruktur mit zwei verschiedenen Apps geleistet, obwohl es hinter den Kulissen schon länger eins war.
Woran sind Getir und Gorillas gescheitert?
Spricht man mit Branchenexperten, war es wohl nur eine Frage der Zeit für den Lieferdienst. „Quick Commerce ist eigentlich schon seit zwei Jahren tot“, sagt E-Commerce-Experte Jochen Krisch. Auslöser war vor allem der russische Einmarsch in die Ukraine: Daraufhin wurden Investoren vorsichtiger, sie drehten jungen Firmen oftmals den Geldhahn ab. Die Lieferdienste fuhren vermehrt einen Sparkurs, auch weil die Menschen einfach nicht mehr so viel bestellten. Statt brummender Aufträge herrschte Konsumflaute. Wegen der drastisch gestiegenen Inflation waren schnell immer weniger Kunden dazu bereit, hohe Liefergebühren zu zahlen.
Anzeichen für den Niedergang bei Getir aber auch Gorillas gab es schon länger: Das Start-up fuhr seine Expansion schon kurz nach dem Start in Deutschland zurück. Unter Getir schrumpfte Gorillas – früher die Nummer eins unter den Express-Lieferdiensten – von dutzenden Standorten auf nur noch sechs deutsche Städte zusammen.
Diesen Sparkurs sah man auch am Angebot: Anfang 2022 rangierte Gorillas noch in den Top 10 der App-Charts, inzwischen ist es nicht mal mehr unter den Top 200 gelistet. Öffnete man als Kunde zuletzt die App, stand man dort im übertragenen Sinne vor leeren Regalen: Selbst essenzielle Warengruppen wie frischer Aufschnitt, Joghurt oder Waschmittel waren vergriffen. Zudem lagen die versprochenen Lieferzeiten oft bei mehr als 20 Minuten.
Die letzte Meile war zu teuer
Der Knackpunkt war wohl die sogenannte letzte Meile, also die letzte Wegstrecke eines Produkts bis zum Kunden. Dafür sind die Kosten in der Regel besonders hoch – zu den Löhnen der Fahrerinnen und Fahrer kommen auch noch die selten günstigen Mieten der Innenstadt-Lager hinzu. Insgesamt waren die Bestellmengen für all diese Ausgaben offenbar zu gering.
„Man braucht eine gewisse Relevanz, eine gewisse Mindestpräsenz – und sie waren einfach zu klein“, sagt Experte Krisch. Jetzt verbleibt in dem Markt nur noch Flink. Den Anbieter plagen allerdings die gleichen Probleme wie Getir und Gorillas. Die Flink-Investoren haben sich zwar erst jüngst dazu verpflichtet, weitere 100 Mio. Dollar in das deutsche Start-up zu pumpen. Mit dem Geld soll es weiter wachsen können, wie „Bloomberg“ berichtete. Doch ob das der nötige Befreiungsschlag ist, erscheint fraglich. Demnach ist das Unternehmen nämlich auch in Gesprächen mit potenziellen Fusionspartnern.