Es war ein alarmierendes Bild, das Wirtschaftsminister Robert Habeck wählte, um die Lage am Gasmarkt zu beschreiben: Es drohe „ein Lehman-Brothers-Effekt im Energiesystem“, warnte Habeck vergangene Woche. Kurz zuvor hatte die Bundesregierung die zweite Stufe des Gas-Notfallplans ausgelöst, nachdem seit Mitte Juni nur noch 40 Prozent der üblichen Gasmengen aus Russland nach Deutschland strömen. Und die Angst geht um, dass Präsident Wladimir Putin den Gashahn bald komplett abdrehen lässt, weil er nach Habecks Worten mit der Gaswaffe einen „ökonomischen Angriff auf uns“ führt. Das sei der Versuch, die harte Haltung des Westens gegen Russlands Überfall auf die Ukraine aufzuweichen.
Ein Lehman-Effekt – das erinnert an jenen Herbst 2008, als das Weltfinanzsystem kurz vor der Kernschmelze stand, ausgelöst von einer der größten Investmentbanken der Welt, deren Existenzkrise auf unzählige Finanzinstitute übersprang. Wie eine Reihe Dominosteine, bei der nur der erste kippen muss, um eine Kettenreaktion auszulösen.
Auf dem Gasmarkt in Deutschland droht dieser erste Dominostein nun der Versorger Uniper zu werden, und in dieser Woche wurde deutlich, dass der Stein tatsächlich schon bedenklich wackelt: Der wichtigste Gasimporteur des Landes benötigt Liquiditätshilfen, um zu exorbitanten Kosten Ersatz für die ausbleibenden Gasmengen aus Russland zu beschaffen. Die Nothilfen dürften vom Staat kommen, es laufen bereits Verhandlungen mit dem Bund, wie Uniper und Habecks Ministerium bestätigen. Um den Düsseldorfer Konzern zu stützen, komme „eine Reihe von Instrumenten“ in Frage, sagte Uniper-Chef Klaus-Dieter Maubach – bis hin zu einer zeitweisen Staatsbeteiligung, wie sie der Bund in der Coronakrise etwa bei der Lufthansa eingegangen ist. Auch bei Uniper geht es um Milliarden.
Der Gasimporteur, der auch Kraftwerke und Gasspeicher in Deutschland betreibt, ist systemrelevant, weil er hierzulande als wichtigste Drehscheibe für Gas aus Russland dient. Uniper ist der größte ausländische Handelspartner des russischen Gasriesen Gazprom. Kein anderes europäisches Unternehmen kauft bei Gazprom so viel Gas wie der Konzern, der im Jahr 2016 durch die Aufspaltung des Energieriesen Eon entstanden ist. Bei Uniper landeten damals nicht nur die schmutzigen Kraftwerke von Eon, sondern auch die deutsch-russischen Gasverträge – jene Verträge, die auf die 70er-Jahre zurückgehen, als die später in Eon aufgegangene Ruhrgas AG im Zentrum der politischen Bemühungen stand, über Gasgeschäfte mit den Sowjets Wandel durch Handel zu betreiben.
Uniper deckt 40 Prozent des Gasbedarfs
Der zentrale aktuelle Vertrag, der eine Lieferung von rund 24 Milliarden Kubikmeter Gas pro Jahr vorsieht, wurde 2006 noch von Eon geschlossen – und läuft eigentlich bis 2036. Insgesamt deckt Uniper über seine Langfristverträge mit Russland, aber auch anderen Lieferländern rund 40 Prozent des gesamten deutschen Gasbedarfs. Dabei bewegt sich Uniper als Importeur im sogenannten Midstream-Geschäft: Es verkauft das Gas weiter, vor allem an Regionalversorger und Stadtwerke, die es dann an Endkunden vertreiben – an Betriebe für die Produktion und Privathaushalte zum Heizen. Daher gilt: Stürzt Uniper in die Pleite, bekommen unzählige andere Versorger, Unternehmen und Verbraucher ein Problem – so wie bei Dominosteinen, die nacheinander kippen.
Aktuell entsteht die bedrohliche Lage zwar noch nicht dadurch, dass insgesamt zu wenig Gasmengen auf dem europäischen Markt verfügbar wären – trotz der deutlich eingeschränkten Lieferungen aus Russland über die Nord-Stream-1-Pipeline seit Mitte Juni. Das Problem allerdings: Der Markt hat längst auf die weitere Verschärfung der Lage und einen schon bald drohenden Gasmangel reagiert. Über die vergangenen zwei Wochen ist etwa der Gaspreis am Spotmarkt um fast 80 Prozent gestiegen.
Um die wegfallenden Liefermengen von Gazprom auszugleichen und den eigenen Lieferverpflichtungen an ihre Kunden nachkommen zu können, müssen Uniper und andere Großimporteure wie die ostdeutsche VNG nun am Terminmarkt Ersatz beschaffen – zu deutlich höheren Preisen als nach ihren langfristigen Gazprom-Verträgen. In der Branche ist die Rede von sechsfach höheren Kosten, pro Tag müssten die Gasimporteure insgesamt einen zusätzlichen dreistelligen Millionenbetrag ausgeben – pro Woche fast 1 Mrd. Euro. Bislang bleiben diese Belastungen bei den Importeuren hängen. Einen Mechanismus, der es erlaubt, die Belastungen entlang der gesamten Lieferkette zeitnah weiterzureichen, hat die Bundesregierung noch nicht aktiviert. Sie fürchtet, dass eine schlagartige Preiserhöhung zu einem Schock bei Betrieben und Verbrauchern führen könnte.
Lange allerdings kann auch ein Großkonzern wie Uniper die Zusatzkosten nicht aus der Substanz stemmen. Schon kurz nach Kriegsbeginn, als die Gaspreise in die Höhe schossen, benötigte der Konzern, der heute dem finnischen Versorger Fortum gehört, Liquiditätshilfen in Milliardenhöhe. Am Terminmarkt müssen für Verträge Sicherheitsleistungen hinterlegt werden, sogenannte Margins – diese sind umso höher, je höher die Gaspreise sind. Damals sicherte sich Uniper-Chef Maubach bereits einen Kredit von bis zu 8 Mrd. Euro der Konzernmutter Fortum, dazu 2 Mrd. Euro der staatseigenen Bank KfW. Maubach zufolge wurde das KfW-Darlehen bisher nicht in Anspruch genommen.
Wie viel Geld braucht Uniper?
Doch schon damals warnte der Uniper-Chef vor einem Dominoeffekt – ein Überspringen der Energieversorgungskrise auf die Realwirtschaft, mit der Gefahr schwerer Preisschocks für die Industrie und sozialen Verwerfungen, wenn die massiv gestiegenen Preise bei den Verbrauchern landen. Inzwischen betrachtet auch Wirtschaftsminister Habeck die Gefahr solcher Kettenreaktionen als real – siehe der Vergleich mit der Lehman-Krise.
Wie viel Geld Uniper benötigt und auf welche Weise die Bundesregierung das Unternehmen stützt, ist bislang jedoch noch unklar. Eine Variante sind Milliardenspritzen des Bundes – sei es als Darlehen oder als Staatseinstieg mit Eigenkapital, etwa über die KfW. In diesem Fall könnten aber bald auch weitere Großimporteure mit den gleichen Problemen anklopfen, allen voran VNG. Wie verlustreich ein solches Engagement des Staates ausfällt, würde sich erst im Laufe der Zeit zeigen – wie in der Lehman-Krise, als der Bund diverse Banken stützen musste, etwa die Commerzbank, bei der er immer noch Aktionär ist.
Wie es aus der Branche heißt, ist aber auch ein anderes Modell im Gespräch: eines, bei dem die Mehrkosten für die Gasbeschaffung über eine Umlage kontrolliert an die Gaskunden weitergeben werden. In diesem Fall müssten die Importeure ihre Mehrkosten durch die Ersatzbeschaffung bei einer zentralen Stelle melden und belegen, etwa bei dem Unternehmen Trading Hub Europe (THE), das schon heute im hoheitlichen Auftrag für die Stabilität auf dem deutschen Gasmarkt verantwortlich ist. THE könnte die Kosten dann über Netzentgelte an die Gaskunden weitergeben. In diesem Fall dürfte jedoch schon bald eine Diskussion über weitere Entlastungen für Verbraucher aufkommen.
Nur eines ist schon jetzt klar: Ohne staatliches Eingreifen wird sich die Gasversorgung vorerst nicht sichern lassen. Und teuer wird es auf kurze Sicht so oder so.