In unserer Reihe Capital erklärt geben wir einen komprimierten Überblick zu aktuellen Wirtschaftsthemen. Diesmal: die Deutsche Bahn und der öffentliche Nahverkehr – mit Redakteur Stefan Schaaf, der bei Capital unter anderem über Geldpolitik und Finanzen schreibt.
In der Beurteilung der langfristigen wirtschaftlichen Folgen der Corona-Pandemie sind sich viele Experten uneinig. Einige rechnen mit einer Inflation, andere mit Deflation. Was macht es so schwierig?
Die Corona-Krise führt zu einem schweren Einbruch der Wirtschaftsleistung, also einer Rezession. Die deutsche Wirtschaft ist im ersten Quartal um 2,2 Prozent geschrumpft, obwohl quasi nur der März von der Pandemie betroffen war. Das zweite Quartal dürfte noch schlimmer ausfallen, während viele Volkswirte für die zweite Jahreshälfte eine Erholung der Wirtschaft erwarten. Solange jedoch die Wirtschaft schrumpft, sind viele Fabriken oder Anbieter von Dienstleistungen nicht ausgelastet und es wird weniger verdient. Das spricht für fallende Preise und damit also eher einer deflatorischen Tendenz. Im Mai betrug die Inflationsrate in Deutschland nur noch 0,6 Prozent, im Februar waren es noch 1,7 Prozent. Diesem Trend steht aber eine Besonderheit der Corona-Krise gegenüber, die sie etwa von der globalen Finanzkrise der Jahre 2008 und 2009 unterscheidet.
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Wegen der Pandemie wurden Grenzen geschlossen, Fabriken stellten ihre Produktion ein, Mitarbeiter konnten nicht zu ihrem Arbeitsplatz gelangen oder wurden sogar krank. Es gibt also einen Mangel an Vorprodukten und Dienstleistungen. Das spricht für steigende Preise. Welcher Trend sich schließlich durchsetzen wird, ist noch nicht abzusehen, auch weil der Preiskrieg am Markt für Rohöl, angezettelt von Saudi-Arabien und Russland, starken Einfluss auf die Inflationsentwicklung hat.
Deflation belastet Schuldner
Verbraucher profitieren doch von fallenden Preisen. Was ist eigentlich so schlimm an einer Deflation, also einem allgemeinen Preisverfall?
Das ist auf den ersten Blick logisch, schließlich freut sich wohl jeder über ein Schnäppchen beim Einkauf. Doch es macht einen Unterschied, ob ein Auto für eine oder einen einzelnen billiger werden, oder ob in der ganzen Volkswirtschaft die Preise fallen. Wenn die Konsumentinnen und Konsumenten erwarten, dass alles immer billiger wird, dann warten sie mit der Anschaffung von nicht-lebensnotwendigen Dingen ab, weil sie glauben diese noch billiger zu bekommen. Ökonomen bezeichnen diese abwartende Haltung als Attentismus. Er kann eine Abwärtsspirale auslösen aus fallendenden Preisen, weniger Produktion und Einkommen, weiter fallenden Preisen und so weiter.
Eine Deflation ist außerdem eine Belastung für alle, die Schulden haben. Fällt das Preisniveau, so steigen in realen Werten die Schulden an und sind immer schwerer zu bedienen. Das führt wahrscheinlich zu mehr Pleiten. Am Ende steht dann Massenarbeitslosigkeit, so wie in Deutschland in den Jahren nach 1930. Weil der Staat zudem noch in der Krise die Steuern erhöhte und Ausgaben senkte, brach die Wirtschaft im Deutschen Reich vollkommen zusammen. Aus dem Geschichtsunterricht wissen wir, wozu dies führte.
Läge nach der Unterstützung vieler Unternehmen durch Regierung und EZB nicht eine ansteigende Inflation nahe?
Notenbanken verfolgen im Wesentlichen das Ziel der Geldwertstabilität, sie streben aber keine Inflationsrate von null an. Der Grund dafür ist, dass sie ein bisschen Abstand zur Deflation halten wollen, wegen der genannten Risiken. Die Europäische Zentralbank definiert ihr Mandat der Preisstabilität mit „auf mittlere Sicht unter, aber nahe 2 Prozent“. Andere Notenbanker wie die Federal Reserve in den USA sind klarer in ihrem Ziel und sprechen einfach von zwei Prozent. Als vor einigen Jahren die Wirtschaft der Eurozone in Richtung einer Deflation rutschte, hielt die EZB mit Anleihekäufen dagegen und verhinderte damit die Abwärtsspirale. Seitdem die EZB während der globalen Finanzkrise begann Anleihen zu kaufen, wird vor einer drohenden Inflation gewarnt, ohne dass es bislang dazu kam.
Richtig ist aber, dass eine Lockerung der Geldpolitik und eine Ausweitung der Geldmenge – umgangssprachlich auch Gelddrucken genannt – die Inflationsrate antreibt. Der Grund dafür ist: Wenn die Menge an Produkten und Dienstleistungen unverändert ist, aber mehr Geld zur Verfügung ist, dann steigen die Preise. Das ist wie in dem Spiel „Kuhhandel“: Weil immer mehr „Geld“ ins Spiel kommt, werden Hunde, Kühe oder Gänse einfach immer teurer.
Diese Produkte sind in der Corona-Krise billiger geworden
#1 Gas, Heizöl, Benzin, Diesel
Der weltweite Preisverfall beim Öl ist in erster Linie für die sinkende Inflationsrate verantwortlich. Energie war im April 2020 im Euro-Raum fast ein Zehntel (minus 9,7 Prozent) günstiger als im Vorjahresmonat. Im April 2019 hatten die Statistiker hingegen noch einen Anstieg um 5,3 Prozent registriert. Den größten Einbruch bei den Verbraucherpreisen gab es in Deutschland beim Flüssiggas. Es war im April 18,6 Prozent billiger als im Vorjahresmonat, wie das Statistische Bundesamt mitteilte. Auf dem zweiten Platz lag Heizöl mit einem Minus von 17,3 Prozent. Tanken wurde ebenfalls deutlich günstiger. Benzin und Dieselkraftstoff verzeichneten einen Rückgang von 16,5 beziehungsweise 13,3 Prozent.
#2 Neuwagen
Wer aktuell trotz der unsicheren wirtschaftlichen Lage einen Neuwagen braucht, hat gute Karten. Medien meldeten Preisnachlässe von bis zu einem Drittel. „Die Höfe der Händler sind voll: Nach sechs Wochen Lockdown gibt es Neuwagen ohne Ende – jetzt produzieren die Fabriken wieder, das drückt die Preise zusätzlich“, berichtete „Auto Bild“.
#3 Butter
Haltbare Lebensmittel aus heimischer Produktion, die weniger stark von Corona-Maßnahmen betroffen sind, haben sich während der Pandemie oft verbilligt. Das gilt auch für Butter. Sie kostete im April laut dem Statistischen Bundesamt im Schnitt 7,8 Prozent weniger als im Vorjahresmonat.
#4 Kartoffeln
Die Kartoffelkeller der Bauern sind offenbar gut gefüllt. Das Statistische Bundesamt meldete einen Preissturz von minus 7,2 Prozent für Kartoffeln in allen Formen (frisch, gekühlt, verarbeitet). Für frische Kartoffeln betrug das Minus sogar 12,1 Prozent, wie der Agrarmarkt-Informationsdienst AMI mitteilte.
#5 Kinderbetreuung
Dienstleistungen der häuslichen Pflege sind im April 6,9 Prozent teurer geworden. Die sogenannten Dienstleistungen des Elementarbereichs haben sich hingegen um 9,9 Prozent verbilligt. Darunter fasst das Statistische Bundesamt Gebühren für die Betreuung kleiner Kinder in Krippen, Tagesstätten oder Kindergärten zusammen. Diese Kosten seien in den vergangenen Jahren zurückgegangen, etwa durch die Abschaffung von Kita-Gebühren, sagte eine Sprecherin der Behörde. Das sei aber regional sehr verschieden.
#6 Computer
Wer für das Homeoffice einen neuen Laptop braucht, gibt dafür vermutlich weniger aus als vor einem Jahr. Die Verbraucherpreise für Computer sanken im April um 5,6 Prozent. Damit setzt sich der Trend der vergangenen Jahre fort. Zwischenzeitlich habe es auch mal Erhöhungen gegeben, etwa durch Veränderungen bei Wechselkursen oder Einfuhrpreisen, sagte die Expertin des Statistischen Bundesamts. Tendenziell sei der Preistrend bei technischen Produkten aber rückläufig. Dasselbe gilt für Mobiltelefone ohne Vertrag und ohne SIM-Karte. Sie waren zuletzt sogar 7,1 Prozent günstiger als im April 2019.
#7 Bahntickets
Momentan fahren zwar sehr viel weniger Menschen mit der Bahn. Wer es tut, zahlt aber im Schnitt ein Zehntel weniger als vor einem Jahr. Die Personenbeförderung im Schienenverkehr ist um 10,5 Prozent günstiger geworden. Hier macht sich der seit Jahresbeginn geringere Mehrwertsteuersatz bei der Deutschen Bahn bemerkbar.
#8 Kakao
Kaffee und Reis sind wegen Transport- und Exportbeschränkungen in der Corona-Krise teurer geworden. Beim Kakao fallen hingegen die Preise. Die Lieferanten verfügten noch über große Vorräte in Lagern und auf Schiffen, berichtete die „Lebensmittelzeitung“ Mitte April. Sollte die Pandemie anhalten, könnte jedoch im Herbst in den Herkunftsländern die Ernte gefährdet sein.
Lässt sich die Frage, ob die Corona-Krise zu Inflation oder Deflation führt, überhaupt eindeutig beantworten?
In der Tat lässt sich derzeit noch gar nicht sagen, ob die Corona-Krise letztlich zu einer Inflation oder Deflation führt – oder zu nichts von beidem und das Preisniveau einfach stabil bleibt. Zunächst sind eindeutig deflatorische Tendenzen logisch und auch zu erkennen. Das ist in einer schweren Rezession normal. Ob die Erholung dann zu deutlich steigenden Preisen führt, hängt an der Geldpolitik, aber auch anderen Faktoren. Die Frage ist, ob sich die lockere Geldpolitik nur wie in der jüngeren Vergangenheit in teureren Vermögenswerten wie Immobilien oder Aktien niederschlägt, oder auch bei Gütern und Dienstleistungen. Da könnte diesmal etwas ganz anders sein als noch vor zehn Jahren. Die Corona-Krise könnte den Trend zur De-Globalisierung verstärken, weil Lieferketten verkürzt und wieder mehr national produziert wird.
„Eine Hyperinflation, die manche Angstmacher an die Wand malen, auch um ihre Bücher zu verkaufen, erwarte ich nicht“
Die Globalisierung hat uns viele günstige Produkte beschert, man muss ja nur mal beim Discounter über die wöchentlichen Angebote von Gartengeräten bis Kinderkleidung schauen. Werden diese künftig statt in China in Europa produziert, werden sie wohl teurer werden. Außerdem können auch nationale Monopole entstehen, die mangels Konkurrenz wenig innovativ sind und hohe Preise für schlechte Produkte verlangen. Wegen der wohl weiterhin eher lockeren Geldpolitik und der De-Globalisierung können wir uns in den 2020er Jahre also eher auf höhere Inflationsraten einstellen. Eine Hyperinflation, die manche Angstmacher an die Wand malen, auch um ihre Bücher zu verkaufen, erwarte ich aber nicht. Dann müsste nämlich eine extrem starke Nachfrage der Verbraucher auf eine vollausgelastete Wirtschaft treffen, das sehe ich in alternden und wachstumsschwachen Volkswirtschaften wie in Europa nicht. Mal zur Einordnung: Die beiden Hyperinflationen in Deutschland folgten im 20. Jahrhundert auf verlorene Weltkriege, der Inflationsschub der 1970er Jahre war auch eine Folge des Vietnamkrieges.
Kein deutlicher Zinsanstieg im kommenden Jahr
Oder sind verschiedene Branchen auf andere Arten betroffen?
Die Corona-Krise betrifft natürlich Branchen ganz unterschiedlich. Aber auch innerhalb einer Branche gibt es Unterschiede. Während die Lufthansa ums Überleben kämpft, schießen die Preise für Hotels an der Nordsee in die Höhe, weil in diesem Jahr alle Deutschland-Urlaub machen wollen.
Wie geht es denn dann mit den Zinsen weiter?
Ganz ehrlich, das ist schwer zu sagen. Aber ich erwarte in den kommenden Jahren keinen deutlichen Zinsanstieg. Klar, wenn die Inflation deutlich steigen würde, dann müssten wohl auch die Notenbanken reagieren und die Zinsen anheben. Aber wie schon gesagt, eine deutlich höhere Inflationsrate ist nicht sehr wahrscheinlich. Und selbst wenn, könnte die EZB der Inflation toleranter als in der Vergangenheit gegenüberstehen, sie also auch mal eine Weile laufen lassen. Das würde auch den Staaten helfen ihre reale Schuldenlast zu senken.
Als Christine Lagarde Ende vergangenen Jahres EZB-Präsidentin wurde, kündigte sie an die Strategie der Notenbank überprüfen zu wollen. Zwar bleibt das Mandat wohl bei Preisstabilität, das Ziel soll aber – wie es so schön hießt – symetrischer werden. Der „Strategy Review“ liegt wegen Corona zwar auf Eis, wird aber kommen. Und dann wird die EZB die Inflationsrate auch mal deutlich über zwei Prozent steigen lassen, ohne gleich einzugreifen. Ich würde also nicht auf höhere Zinsen hoffen.
Podcast „Die Stunde Null“
Horst von Buttlar im Gespräch mit IfW-Chef Gabriel Felbermayr