Thema Renaissance der Tugenden

Wie Unternehmen dem Wandel in der Arbeitswelt begegnen können. Von Christoph Quarch
Sokrates-Statue in Athen
Sokrates-Statue in Athen
© Getty Images
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Christoph Quarch ist freischaffender Philosoph und Autor. Er berät Firmen bei Kulturentwicklungsprozessen. Mehr zu Christoph Quarch auf seiner Webseite

Die Welt der Wirtschaft ist im Wandel. Kunden und Konsumenten beurteilen Produkte nach neuen Kriterien. Die Maßstäbe für gut und schlecht, erfolgreich und erfolglos ändern sich laufend. Auch die Arbeit ist nicht mehr, was sie einmal war. Menschen, die im Dienst von Unternehmen stehen, haben andere Erwartungen und Hoffnungen als ihre Väter, wenn sie zur Arbeit gehen. Die Nerven liegen blank, psychische Erkrankungen nehmen zu: Burn-out hier, Bore-out dort.

In einer solchen Situation sind Orientierung und Halt gefragt. Es wird der Ruf nach Werten laut: Werte, die das Profil von Unternehmen schärfen; Werte, die Kunden an ein Unternehmen binden; Werte, mit denen die Belegschaft sich identifizieren kann; Werte, die verbinden – ja mehr noch: Werte, die Verbindlichkeit erzeugen. Denn eben das sind die Ressourcen, die knapp geworden sind: Verbindlichkeit und Zugehörigkeit, Verbundenheit und Identität.

Nur was echt ist, kann bestehen

Wer dauerhaft am Markt bestehen will, muss Menschen an sich binden – nach innen, wie nach außen. Wer nachhaltig erfolgreich sein möchte, braucht eine Identität, mit der Menschen sich identifizieren oder wenigsten sympathisieren können. Nicht irgendeine Hochglanz-Identität, nicht irgendein PR-generiertes Profil, sondern eines, dem man Glauben schenkt. Denn nur was echt ist, schafft Verbindlichkeit. Und das was länger währt als eine Mode.

Verbindlichkeit entsteht durch Werte – doch nur, wenn diese nicht allein in Sonntagsreden propagiert, sondern auch am Werktag realisiert werden. Was häufig nicht der Fall ist. Zu viel der Lippenbekenntnisse haben wir zuletzt von Vorständen und CEOs vernehmen müssen, als dass es heute noch mit Worthülsen getan wäre. So wahr es ist, dass Werte die Ressource sind, die Unternehmen für die Zukunft brauchen, so wahr ist auch, dass diese Werte wertlos bleiben, wenn sie nicht im Alltag lebendig werden. Allein mit Werten ist es nicht getan. Was Not tut, das sind Tugenden.

Inkarnierte Werte

Tugend ist ein altes Wort, das manchem anstößig erscheint. Es ist daher geboten darzulegen, was ursprünglich damit gemeint war. Das Wort hängt eng zusammen mit „Tauglichkeit“ und „Tüchtigkeit“. Das philosophische Konzept jedoch stammt von den alten Griechen, deren Wort für Tugend areté lautete. Wörtlich übersetzt heißt das Bestheit, und eben darum geht es auch. Die Tugend eines Dinges oder eines Wesens ist erfüllt, wenn es in höchstem Maße gut ist; wenn es das in ihm schlummernde Potenzial auf optimale Weise verwirklicht; wenn es seinen Sinn und Zweck vollkommen manifestiert. Die areté eines Messers etwa sah Sokrates dann gegeben, wenn es mühelos und glatt schneidet. Die areté des Pferdes erkannte er in dessen Kraft, Geschmeidigkeit und Schnelligkeit. Die areté des Leibes hieß Gesundheit, und die des Staates nannte er Gerechtigkeit.

Über die Worte, das wusste Sokrates genau, ist leicht Einigkeit zu erzielen. Aber was sie wirklich bedeuten, darüber lässt sich trefflich streiten. Dass etwa Gerechtigkeit ein hoher Wert der Polis sei, darüber waren sich alle einig, doch was letzten Endes gerecht ist, war keineswegs gewiss. Vor diesem Hintergrund machte Sokrates eine bahnbrechende Entdeckung: Er stellte fest, dass Werte zwar benannt und öffentlich verfochten werden können, dass sie jedoch nur dann auch wirklich sind, wenn sie im Leben der Menschen wirksam werden. Oder anders gesagt: Man weiß solange nicht, was ein Wert wie Gerechtigkeit ist, wenn man ihn nicht als Tugend in seinem eigenen Leben inkarniert, indem man sich gerecht verhält.

Tugend schafft Verbindlichkeit

Werte, so könnte man die Einsicht des Sokrates übersetzen, sind wertlos, wenn sie nicht operationalisiert werden. Und eben das geschieht, wo Menschen sich tugendhaft verhalten: Wo sie nicht bloß über Gerechtigkeit, Nachhaltigkeit, Fairness, Achtsamkeit Maßhaftigkeit etc. reden, sondern wo sie gerecht, nachhaltig, fair, achtsam und maßvoll agieren. Und nur wer in seinem Tun Tugenden wie Gerechtigkeit oder Nachhaltigkeit bezeugt, wird glaubhaft in Erscheinung treten und Menschen an sich binden können.

Womit wir wieder beim Thema wären, denn eben darum geht es hier: Für eine Renaissance der Tugenden des Wirtschaftens zu werben – für Weisheit und Gerechtigkeit in der Führung, für Maßhalten und Courage in der Strategie, für Achtsamkeit und Wahrhaftigkeit in der Kommunikation. Wenn Beschäftigte und Führungskräfte diese Qualitäten dauerhaft verwirklichen, werden sie die Verbindlichkeit erzeugen, die ein Unternehmen im Innersten zusammenhält und gleichzeitig nach außen hin erfolgreich macht.

Kulturräume schaffen

Doch so etwas geschieht nicht von allein. Tugenden brauchen Hege und Pflege – sie müssen kultiviert, trainiert und eingeübt werden. Was eine Tugend ist, weiß nicht, wer sich den entsprechenden Wikipedia-Artikel downloaded, sondern wem sie mit der Zeit in Fleisch und Blut übergegangen ist. Dafür braucht es Kulturräume, in denen, gleich wie in einem Gewächshaus, die Saat der Tugend wachsen und gedeihen kann. Und es braucht Führungskräfte, die sich wie Gärtner darum kümmern, dass das Klima im Kulturraum stimmt.

Unternehmenskulturentwicklung ist das Gebot der Stunde. Wer den Herausforderungen gewachsen sein will, die aus den Wandlungsprozessen in Wirtschaft und Arbeitswelt entstehen, wird gut beraten sein, seine Aufmerksamkeit darauf zu richten, Kulturräume für Tugenden zu schaffen. Damit die Werte, die ein Unternehmen trägt, auf lange Sicht lebendig sind.

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