Fachkräfte fehlen in Deutschland in jedem sechsten Beruf. Das besagt die jüngste Analyse der Bundesagentur für Arbeit, wonach 2022 in 200 von 1200 bewerteten Berufen Engpässe herrschten – mehr als noch ein Jahr zuvor. Betroffen vom Mangel sind unter anderem die Pflegeberufe, Berufskraftfahrer, medizinische Fachangestellte, Bauberufe, Kinderbetreuung, Kraftfahrzeugtechnik und IT-Berufe. Im Vergleich zum Vorjahr kamen Hotel- oder Gastronomiedienste, Metallbau und Busfahrer neu dazu.
Zugleich suchten von den arbeitslos gemeldeten Fachkräften nur 26 Prozent eine Beschäftigung in einem der Berufe mit Engpass. Die Konsequenz ist seit schon längerem klar. Deutschland braucht mehr Fachkräftezuwanderung aus dem Ausland – und zwar aus Nicht-EU-Staaten, da andere europäische Staaten ähnliche Probleme haben. Eine Studie der Boston Consulting Group sieht Deutschland als Zielland in der Attraktivität im weltweiten Vergleich auf Platz zwei.
Aber es hakt gewaltig. Die Zuwanderung aus Drittstaaten nach Deutschland ist nur zu einem Anteil von 7,6 Prozent nach Angaben des Bundesamts für Migration (BAMF) erwerbsbezogen. Die Arbeitsmigration aus Drittstaaten müsste ein Vielfaches des jetzigen Niveaus erreichen, um den wachsenden Bedarf von Hunderttausenden auf dem Arbeitsmarkt zu stillen. Immerhin: Im vergangenen Jahr wanderten rund 56.000 Nicht-EU-Bürger zur Arbeit nach Deutschland ein. Im Ausländerzentralregister wurden zum Jahresende 351.000 Menschen mit einem befristeten Aufenthaltstitel erfasst, der zur Erwerbstätigkeit berechtigt.
Der Anstieg von 19 Prozent im Vergleich zu 2021war deutlich stärker als in den Vorjahren. Rund 20.000 stellen akademische Fachkräfte, die mit der „Blauen Karte“ der EU nach Deutschland kamen die größte Einzelgruppe, mit der Aufenthaltserlaubnis für Fachkräfte mit akademischer Ausbildung schafften es zusätzlich 12.000. Auch die Zahl von Fachkräften ohne Hochschulausbildung stieg stark an.
Dennoch: Die bisherigen Regeln sind viel zu bürokratisch und bauen hohe Hürden für qualifizierte Arbeitskräfte auf. Experten halten die Migrationsverwaltung für ausgelastet: Die Behörden seien nicht in der Lage, mehr Erteilungen hinzubekommen. Seit Jahren befänden sie sich in der Dauerkrise, hieß es bei einer Anhörung im Bundestag. Vollzugsmängel in den Behörden stehen in der Kritik ganz oben. Es müssten 100.000 Menschen pro Jahr in Verwaltungsverfahren aufgenommen werden, so der Deutsche Städtetag, man sei aber schon jetzt „am Rande der Dysfunktionalität".
Aber welche Herkunftsländer sind es, aus denen die meisten Erwerbsmigranten regulär nach Deutschland kommen? Das geht aus dem jüngsten Monitoring-Bericht des BAMF hervor.
Herkunftsländer von Erwerbsmigranten in Deutschland
Die Pyramide schmückt die Konzernzentrale des indischen Informationstechnologieriesen Infosys, der größten Softwareschmiede des Landes, in der Metropole Bangalore. Deutsche Unternehmen würden in Indien liebend gerne ein Vielfaches and IT-Fachkräften und Softwareentwicklern anwerben. Häufig haben Konzerne wie Bosch oder multinationale Großunternehmen mit Sitz in Deutschland eigene Rekrutierungsstrukturen. Seit Jahren gibt es Bemühungen, Engpässe bei der Visavergabe zu beseitigen. Im ersten Halbjahr 2022 führten Staatsangehörige Indiens mit einem Anteil von 13,4 Prozent bei der Erteilung von befristeten Aufenthaltstiteln die Erwerbsmigration an.
Türkische Staatsangehörige spielen sowohl bei der Bildungs- wie auch bei der Erwerbsmigration auf den vorderen Plätzen mit. Von den 2022 befristet vergebenen Aufenthaltstiteln für eine Beschäftigung gingen 6,1 Prozent an Bewerber türkischer Herkunft. Bei Neuzuwanderern mit akademischem Hintergrund erreicht die Türkei sogar hinter Indien (25,5) mit zehn Prozent Platz zwei. Die Zahlen deuten darauf hin, dass angesichts der zunehmenden Einschränkung der Bürgerrechte in der Türkei nicht nur die Asylanträge steigen, sondern auch die reguläre Migration zugenommen hat.
Die größte Baustelle in der Hauptstadt Pristina ist eine neue Zentralmoschee. Migranten aus dem Kosovo machten im ersten Halbjahr 2022 sieben Prozent der zuerkannten Aufenthaltstitel im Rahmen einer Erwerbsmigration aus; alle Westbalkanstaaten zusammen etwa 17 Prozent. Der Deutsche Gewerkschaftsbund schätzt das Ausbeutungsrisiko für diese Menschen als hoch ein, auch weil etwa 44 Prozent der nach der Regelung nach Deutschland kommenden Beschäftigten in der Baubranche arbeiten. Die Westbalkanregelung für Arbeitsuchende ohne Hochschulstudium oder Ausbildung soll zu Ende 2023 entfristet und auf ein jährliches Kontingent von 50.000 Personen verdoppelt werden.
Albanien steht mit 5,7 Prozent auf Platz vier der im ersten Halbjahr 2022 gewährten befristeten Aufenthaltstiteln für die Erwerbsmigration – überwiegend ohne Berufsqualifikation oder akademischen Abschluss. Albanien ist laut einer Studie des German Marshall Fund unter den Weltbalkanstaaten am stärksten vom Braindrain betroffen: Es habe in den vergangenen drei Jahrzehnten 37 Prozent seiner Bürgerinnen und Bürger verloren, meist junge gebildete und qualifizierte Menschen, gefolgt von Bosnien (24 Prozent), Nordmazedonien (10) und Serbien (9). Das Bild zeigt albanische Berufsschüler in einer Kochschule.
Besuche wie der von Außenministerin Annalena Baerbock in Bosnien-Herzegowina 2022 sind eher selten. Abkommen zur Anwerbung von Arbeitskräften gab es dagegen schon mit Ex-Jugoslawien. Dessen Auflösung hatte weitere Wanderungsbewegungen vom Balkan nach Westeuropa zur Folge. Bosnien-Herzegowina macht heute – hinter Albanien und vor Nordmazedonien und Serbien – 5,6 Prozent der Erwerbsmigration aus. Drei Viertel der Menschen die im Rahmen der Westbalkanregelung nach Deutschland kommen, sind laut DGB im Bau- und Gastgewerbe sowie im Gesundheits- und Sozialwesen tätig – davon die Hälfte auf Fachkräfteniveau. Der Anteil der Ausgewanderten an der bosnischen Gesamtbevölkerung wird auf etwa 50 Prozent geschätzt. Wegen niedriger Fertilitätsraten und Auswanderung wird bis 2050 die Bevölkerung des Landes nach Prognosen um 18 Prozent schrumpfen.
In Manila demonstrierten in der Coronapandemie Pflegekräfte für eine Aufwertung des Gesundheitssektors. In der Gruppe von Erwerbsmigranten, die mit einer anerkannten qualifizierten Berufsausbildung in Deutschland arbeiten dürfen, waren im ersten Halbjahr 2022 philippinische Staatsangehörige mit 18 Prozent führend vor der Herkunftsregion westlicher Balkan. Die Tatsache, dass in der Gruppe deutlich mehr Frauen vertreten sind als Männer, weist auf das große Gewicht des Pflegesektors hin. Fast zwei Millionen philippinische Pflegekräfte sollen in Deutschland arbeiten. Von der philippinischen Arbeitsbevölkerung ist etwa ein Fünftel im Ausland tätig.
In dem traditionellen Einwanderungsland Brasilien warb Arbeitsminister Hubertus Heil gerade um Fachkräfte für den deutschen Arbeitsmarkt – hier mit Pflegestudenten in einer katholischen Universität in der Hauptstadt Brasilia. Im Rahmen der Fachkräftezuwanderung von Akademikern oder über die Blaue Karte der EU stellten Brasilianer im ersten Halbjahr 2022 immerhin schon knapp vier Prozent. Heil traf seinen brasilianischen Amtskollegen Luiz Marinho, um über breitere Anwerbungsperspektiven zu sprechen. In einer gemeinsamen Erklärung wurden faire und vereinfachte Strukturen für einen verstärkten Fachkräfteaustausch vereinbart. Auch andere lateinamerikanische Ländern sollen stärker umworben werden.
Entwicklungsministerin Svenja Schulze und Arbeitsminister Hubertus Heil unterzeichneten im Frühjahr in Ghana eine Vereinbarung zum Aufbau geregelter Erwerbsmigration. Bislang sind deutsche Unternehmen mit der Anwerbung in afrikanischen Ländern sehr zurückhaltend. Lediglich Ägypten platzierte sich 2021 bei der Zuwanderung von Fachkräften mit akademischem Hintergrund an neunter Stelle der wichtigsten Herkunftsländer – zumeist über die Blaue Karte der EU. Entwicklungsorganisationen warnen vor den Gefahren eines Braindrain. Daher sollten aus dem Gesundheitswesen in Afrika keine Arbeitskräfte abgezogen werden.