Sommer 2018 – vielleicht erinnern Sie sich noch an die Zeit, in der die Schlagzeilen nicht von Corona, sondern vom Wetter beherrscht wurden. Ganz Europa ächzte unter dem rekordverdächtigen Sommer, selbst meine Hitze-erprobten Nachbarn in Barcelona stöhnten. Doch im September wurde das Wetter für viele Tage von einer anderen Schlagzeile verdrängt: Bei Meppen hat eine fehlgelenkte Bundeswehr-Rakete eine Moorfläche entzündet, der Brand ist außer Kontrolle.
Entstanden war der Großbrand durch eine Aneinanderreihung von Schlampigkeiten: So hatte keiner sorgfältig geprüft, ob eine Schießübung trotz Waldbrandwarnung vertretbar ist, ob die bereitstehende Feuerlöschraupe zuverlässig funktioniert oder wie die Kommunikation mit den zivilen Feuerwehren und dem THW für den Notfall laufen soll.
Obwohl in Spitzenzeiten bis zu 1700 Brandbekämpfer gleichzeitig im Einsatz waren, dauerte es Wochen, bis die letzten Herde gelöscht waren. Denn Moorbrände haben eine unangenehme Eigenschaft: Die Glut breitet sich unsichtbar unter der Oberfläche aus und ist dort extrem schwer zu lokalisieren und zu bekämpfen. So kann ein gigantischer Schaden entstehen.
Und den befürchte ich für die deutsche Wirtschaft gerade auch.
Die Wirtschaftswährung
Die wohl wichtigste Währung in der Wirtschaft ist Vertrauen. Jeder Unternehmer weiß, dass er in erster Linie Vertrauen verkauft – das Vertrauen, dass er die versprochene Leistung auch zu erfüllen vermag. Warum sollten Sie ein Geschäft mit jemandem machen, dem Sie nicht vertrauen? Auch wenn Sie Ihr Recht zur Not auch einklagen könnten, aber wollen Sie das?
Ich wage sogar zu behaupten, dass eine Wirtschaft grundsätzlich umso fortschrittlicher sein kann, je mehr Vertrauen herrscht. Der Grund: Vertrauen reduziert die wahrgenommene Komplexität.
Der Komplexitätsreduzierer
Komplexe Situationen sind geprägt von Überraschungen und Unwissen. So auch jedes soziale System: Sie können nie genau wissen, welche Absichten Ihr Kunde, Lieferant, Wettbewerber hat, was er denkt, fühlt oder plant. Selbst bei Ihrer Partnerin oder Ihrem Partner werden Sie das nie exakt einschätzen können. Zum Glück übrigens, sonst würde sich jegliche Kommunikation zwischen Ihnen beiden erübrigen und Ihre Beziehung wäre tot.
Wollen Sie nun trotz Ihres Unwissens handlungsfähig sein, dann brauchen Sie Vertrauen: Sie müssen sich auf vieles verlassen können. Darauf, dass der geschlossene Vertrag noch gilt, dass Ihre Bank noch funktioniert, dass Ihre Mitarbeiter ihrer Arbeit nachgehen können. Denn dann brauchen Sie sich nicht auf alle Eventualitäten einstellen, sondern nur noch auf wenige. Sie können sich fokussieren: auf die Entwicklung Ihrer neuen Maschine, auf Ihre Produkteinführung in einem neuen Markt, auf das Geschäftsmodell Ihres neuen Online-Dienstes. Sie können also viel gezielter handeln, Sie sind ungleich effizienter und effektiver.
Natürlich gibt es keine lineare Beziehung zwischen dem Maß an Vertrauen und wirtschaftlichem Fortschritt, schon allein weil Komplexität immer relativ ist: Was für den einen komplex ist, weil er noch nie Ähnliches erlebt hat, ist für den andere aufgrund seiner Erfahrung und seiner problemrelevanten Ideen weit weniger überraschend.
Was aber gilt: Vertrauen ist ein extrem sensibler Faktor in der Wirtschaft. Und der ist in Zeiten hoher Komplexität noch nötiger als sonst.
Der Selbstverständlichkeiten-Schwund
Sie erfahren es jeden Tag am eigenen Leib: Die Maßnahmen, um die Pandemie zu einzudämmen, triggern die Komplexität in der Wirtschaft massiv. Viele Selbstverständlichkeiten sind schon längst keine mehr . Oder können Sie sich noch darauf verlassen, ob und wann Sie Ihr Einzelhandelsgeschäft öffnen dürfen? Können Sie noch darauf vertrauen, dass Ihr Geschäftspartner nicht schon längst zahlungsunfähig ist angesichts der Aussetzung des Insolvenzrechts? Können Sie damit rechnen, dass die Konditionen des Fünf-Jahres-Vertrages über die Vermietung Ihrer Gewerbeflächen Bestand hat, nachdem der Gesetzgeber die Pandemie zur „schwerwiegenden Veränderung der Geschäftsgrundlage“ erklärt hat?
Das Bröckeln
Ich will hier gar nicht die Sinnhaftigkeit einzelner Maßnahmen diskutieren, denn es kommt mir auf etwas anderes an. Während auf der einen Seite die Komplexität zunimmt, weil Selbstverständlichkeiten keine mehr sind, leidet auf der andere Seite der wichtigste Komplexitätsreduzierer: Denn begegnen Ihnen mehrfach Dinge, die Sie zutiefst überraschen, bröckelt Ihr Vertrauen.
Der Vertrauensverlust in der deutschen Wirtschaft ist meines Erachtens unübersehbar.
Und ich beobachte seit einiger Zeit eine weitere Entwicklung, die mich noch mehr beunruhigt: In meinen Gesprächen mit Menschen aus der Wirtschaft nehme ich immer häufiger wahr, dass jeder für sich beginnt, eigene Narrative zu entwickeln …
Die Glut
Die Aussagen reichen von „Jetzt soll es noch strengere Maßnahmen für Quarantäne-Verweigerer geben“ bis „Jetzt sperren die uns bald alle ein“. In der Steigerung entwickeln sich dann auf allen Seiten Verschwörungsfantasien, wobei die Grenzen fließend sind.
Die, die sich in der Öffentlichkeit damit zu Wort melden, sind nur die Spitze des Eisbergs, denn die wenigsten halten gleich eine Rede oder verkünden ihre Geschichte in den sozialen Netzen. Doch darüber reden tun fast alle.
Dieses Ausmalen von dem, was sein könnte, ist mehr als nur ein Indiz für bröckelndes Vertrauen. Wie beim Moorbrand hat sich die Glut unterirdisch schon weiter gefressen: Es ist tiefes Misstrauen entstanden.
Der eigentliche Verlust
Misstrauen ist nicht nur die bloße Abwesenheit von Vertrauen. Misstrauen malt Bilder in Ihren Kopf, wie es sein könnte. Misstrauen entwickelt Narrative.
Je häufiger Sie Situationen erleben, die so ganz anders als selbstverständlich laufen, desto größer ist die Gefahr, dass Sie misstrauisch werden. Sie machen sich Gedanken über tausend Dinge, über die Sie vorher nie nachgedacht haben – weil es einfach nie erforderlich war. Nun ziehen Sie nämlich nicht nur die Dinge ins Kalkül, die Sie wissen. Nein, Sie glauben auch Dinge berücksichtigen zu müssen, von denen Sie wissen, dass Sie sie nicht wissen. Ihrer Fantasie sind keine Grenzen mehr gesetzt, was das sein könnte.
In Maßen ist Misstrauen gesund. Im Übermaß allerdings erhöht Misstrauen die Komplexität in extremer Weise – und ist damit die denkbar schlechteste Basis für eine funktionierende Wirtschaft.
Die Vertrauensverantwortung
Dieses Misstrauen hat übrigens keiner „gemacht“. Das geht nämlich genauso wenig, wie Sie Vertrauen kausal „herstellen“ können. Das Einzige, was Sie tun können, ist, die Möglichkeitsbedingungen für Vertrauen zu erhöhen. Das ist meiner Ansicht nach eine der Hauptaufgaben von Politik: Sie trägt Verantwortung, dass der Boden für Vertrauen in diesem Land bereitet ist.
Und die handelnden Politiker in Regierung und Opposition gehen aktuell alles andere als sorgfältig mit dieser Verantwortung um. Denn Vertrauen entsteht auch auf der Basis von sorgsamem Umgang mit Dingen. Und den vermisse ich. Was ich sehe, ist eine große Schlampigkeit: bei der Beschaffung von Schutzausrüstung im letzten Jahr, bei der Organisation der Impfungen, bei der Information der Bürger, bei der Abwägung von Maßnahmen.
Ja, natürlich machen die das auch zum ersten Mal. Aber das ist das Wesen von Politik, sonst wäre es Bürokratie. Und um so sorgfältiger müssen sie vorgehen! Und vor allem offenlegen, auf welche Erkenntnisse sie ihre Beschlüsse stützen. Ich will ja gerne annehmen, dass sie nicht aus Willkür handeln. Aber auf der Basis von Wissen kann es ja nicht sein, denn das gibt es ja nicht in ausreichendem Maße. Also bleibt nur der Glaube.
Das gefährliche Spiel
Das aber transparent zu machen – und das sehe ich ein –, ist im Superwahljahr schwierig: Denn wer sich offen auf Glauben statt Wissen beruft, gilt als schwach und nicht wählbar. So geht das politische Spiel eben. Doch die resultierende Schlampigkeit ist wie die fehlgeleitete Rakete, die im Meppener Moor einschlug: Der Schaden, der durch den unterirdischen Brand des Misstrauens entsteht, dürfte gigantisch sein und noch weit über das Jahr 2021 hinausreichen.
Deshalb, meine Damen und Herren der Politik: Lassen Sie bitte mehr Sorgfalt walten, sonst verschlampen Sie unsere Wirtschaft und unsere Gesellschaft! Und das tut Ihnen und uns auch nach den Wahlen noch sehr weh.
Lars Vollmerist Unternehmer, Vortragsredner und Bestsellerautor. In seinem Buch „Der Führerfluch – Wie wir unseren fatalen Hang zum Autoritären überwinden“ stellt er den Krisen in unserem Land Selbstorganisation und die Idee einer Verantwortungsgesellschaft entgegen.