Es herrscht Krieg in Europa. In der Ukraine kämpfen die Menschen um ihr Leben, der Westen versucht, den Aggressor Wladimir Putin mit wirtschaftlichen Sanktionen in Schach zu halten. Die EU will Russland von der Weltwirtschaft abschneiden, indem Banken keinen Zugang mehr zu Finanzierungsquellen im Ausland bekommen sollen und die Industrie Zulieferungen an die Energie- und Luftfahrtindustrie stoppen soll. Das hat seinen Preis, auch für die Handelspartner, die die Sanktionen verhängen.
Den monetären Preis haben gestern die Anleger an der Börse gezahlt. Die Kurse der europäischen Aktienindizes wie dem deutschen Leitindex Dax und dem französischen Pendant CAC sind nahezu unisono um knapp vier Prozent eingebrochen. Tapfer hielt sich der niederländische Index AEX unter der Schwelle von minus drei Prozent, obwohl die dortige Wirtschaft den stärksten Handel mit Russland treibt. In den USA drehten die Kurse von S&P 500 und Dow Jones bereits gestern, am Tag des Einmarschs Russlands in die Ukraine, wieder ins Plus.
Und die europäischen Börsen folgen heute, obwohl die Bedrohung eines Landkriegs in Europa über Nacht nicht kleiner geworden ist. Es gibt jede Mengen Bonmots, die das Phänomen beschreiben: „Politische Börsen haben kurze Beine“ und „Kaufen, wenn die Kanonen donnern, verkaufen, wenn die Violinen spielen“ sind nur zwei Beispiele. Aber warum ist das eigentlich so?
Handel auf die Zukunft
„An der Börse wird die Zukunft gehandelt“, lautet eine weitere Börsenweisheit. Und wenn es Krieg gibt, die Zeit der Unsicherheit davor vorbei ist, steht der Markt vor vollendeten Tatsachen. Und darauf lässt sich nicht spekulieren. Also setzen Investoren auf die neue Weltordnung, die durch den Krieg entsteht. Die Börse preist letztlich damit auch Friedensszenarien ein.
Dazu gehört derzeit, dass die Zinswende in den USA und Europa etwas länger auf sich warten lassen könnte, als viele Kapitalmarktexperten noch vor zwei Wochen angenommen haben. Das verbessert die Aussichten für wachstumsstarke Tech-Unternehmen wie Amazon, Alphabet, Netflix, Paypal oder Airbnb wieder, die am gestrigen Donnerstag deutlich besser abgeschnitten haben als der Nasdaq.
Es bedeutet aber auch, dass die Kurse von Anlageklassen wie Öl, Gold und Anleihen steigen, weil viele Anleger aufgrund der anhaltenden Unsicherheit – schließlich ist nicht klar, wie weit Putin zur Umsetzung seiner Ziele bereit ist, zu gehen – dort ihr Geld in Sicherheit bringen wollen.
Das alles sind Marktreaktionen, die man auch bei früheren Kriegen beobachten konnte. Die US-Vermögensverwaltung LPL hat errechnet, dass der US-Index S&P 500 bei zwanzig geopolitischen Ereignissen seit dem Angriff auf Pearl Harbor im Jahr 1941 im Durchschnitt um fünf Prozent gefallen ist. Allerdings machte der S&P 500 diese Verluste im Schnitt in knapp 50 Tagen wieder wett.
Das Muster ist fast immer gleich, auch wenn die Einbrüche unterschiedlich stark ausfallen. Capital hat einige Konflikte aus den vergangenen Dekaden genauer unter die Lupe genommen:
Zweiter Golfkrieg
Am 2. August 1990 ließ der irakische Diktator Saddam Hussein seine Truppen in Kuwait einmarschieren. Das traf die Welt überraschend – und der Schock spiegelte sich an den Börsen: In den ersten Tagen nach dem Einmarsch in Kuwait fielen der Dax und die Indizes der Wall Street um knapp zehn Prozent. Da beide Länder wichtige Öllieferanten waren, verdoppelte sich der Ölpreis innerhalb weniger Monate.
Erst 71 Tage später erreichten die Aktienmärkte, die vor dem Golfkrieg stark haussiert hatten, ihr Tief. Ein Dreiviertel Jahr später setzte die Erholung ein. In diesem Fall dauerte der Einbruch also vergleichsweise lange.
11. September
Viel schneller etwa ging es bei der US-geführten Intervention in Afghanistan Ende 2001. Der Auslöser dafür waren die Flugzeugattentate radikaler Islamisten am 11. September 2001 auf das World Trade Center in New York und das US-Verteidigungsministerium. Der S&P 500 fiel in den darauffolgenden elf Tagen um knapp zwölf Prozent. Gebremst hatte den Kursverfall, dass die Wall Street damals bis zum 17. September geschlossen hatte: Der Financial District wurde nach der Terrorattacke geräumt. Die US-Notenbank Fed senkte zudem den Zins auf drei Prozent. Und das wirkte: Bereits am 22. September setzte die Erholung ein. Ende des Jahres lagen die großen US-Indizes alle wieder höher als vor den Anschlägen.
Syrischer Bürgerkrieg
Im September 2013 erklommen die Ölpreise den höchsten Stand seit zwei Jahren. Mehr als 106 US-Dollar kostete ein Barrel der Sorte WTI, das kam auch später nur noch einmal vor. Der Grund war die Giftgasattacke des syrischen Präsidenten Baschar al-Assad Ende August auf Zivilisten. Damals wurde heftig über eine Einmischung des Westens debattiert, ein Beschuss auf Damaskus hätten die USA binnen weniger Tage organisieren können. Doch die Sorge um mögliche Ölengpässe – in der Region Nahost wurden damals 35 Prozent des weltweit produzierten Öls gefördert – trieb die Preise nahe an frühere Rekordhochs. An den Aktienmärkten ging der Krieg jedoch fast spurlos vorbei. „Die syrische Wirtschaft ist einfach zu klein, um die deutsche Konjunkturentwicklung zu beeinflussen“, sagte Marcel Fratzscher, Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung. Der Dax knickte zwar nach dem Giftgasanschlag um rund drei Prozent ein, legte dann aber in den nächsten zehn Monaten um etwa 20 Prozent zu.
Fazit
Die turbulenten Tage vor Ausbruch eines Krieges sind von Unsicherheit, Drohungen und Angst erfüllt. Doch dann, wenn die ersten Schüsse fallen, machen sich an der Börse Friedenserwartungen breit. Natürlich wünschen sich auch Anleger an einem solchen Tag nichts mehr als das Ende des Kriegs. Aber die Erfahrung zeigt, dass dieser Tag ebenfalls ein guter Einstiegszeitpunkt ist, ohne dass man auf Rüstungsunternehmen setzen muss.