Die Inflation ist sehr hoch. In der Eurozone und in Deutschland liegt sie mittlerweile an der Marke von acht Prozent. Die Europäische Zentralbank hat sich monatelang trotzdem geweigert, die Zinsen zu erhöhen. Doch jetzt sieht sie sich gezwungen, die Notbremse zu ziehen. Auf der Sitzung kommende Woche wird der EZB-Rat aller Voraussicht nach noch stillhalten. Doch im Juli wird er beginnen – so sieht es derzeit aus – die Nulllinie zu verlassen. Im September soll ein zweiter Zinsschritt folgen.
So unvermeidlich die Zinswende ist, sie kann zu unerfreulichen Nebenwirkungen führen. Dass die EZB eine Zinserhöhung so lange wie möglich herausgezögert hat, war ja nicht grundlos. Der wichtigste: Sie hatte angenommen, dass die hohen Inflationsraten vorübergehend seien. Die durch die Corona-Pandemie gestörten Lieferketten würden sich in absehbarer Zeit wieder zurechtruckeln, und die Versorgungsengpässe damit verschwinden. Mit dem Ende der Heizsaison würden die Energiepreise wieder sinken. Hinzu kommt: Höhere Zinsen würden die Gründe für die anziehende Inflation nicht bekämpfen. Sie sorgen weder für funktionierende Lieferketten, noch verbilligen sie Öl.
Doch diese Annahme war spätestens dann Makulatur, als Russland Ende Februar die Ukraine überfiel. Angefeuert durch den Angriffskrieg, stiegen die Energiepreise kräftig. Und es ist durchaus möglich, dass sie noch weiter steigen werden. Hinzu kommt, dass die Null-Covid-Politik der chinesischen Führung mit harten Lockdowns die Lieferketten immer wieder durcheinanderbringt.
An dem Argument, dass Zinserhöhungen nicht gegen diese Angebotsschocks helfen, hat sich nichts geändert. Allerdings steigen die Preise jetzt auf breiter Front. Die EZB sieht sich deshalb zum Handeln gezwungen. Das liegt auch daran, dass eine Lohn-Preis-Spirale droht. Die Logik dahinter: Arbeitnehmer geben branchenübergreifend ihre Zurückhaltung auf und setzen höhere Löhne auf breiter Front durch, da sie nicht damit rechnen, dass die Inflation bald wieder im grünen Bereich sein wird. Unternehmen erhöhen als Ausgleich die Preise. Daraufhin steigt das allgemeine Preisniveau weiter, es entsteht eine Kettenreaktion.
„In Zeitlupe mit dem Hammer auf die Wirtschaft hauen“
Die Untätigkeit der EZB könnte zu dieser Entwicklung beitragen. Jetzt rächt sich, dass die EZB unter Führung von Christine Lagarde Zinserhöhungen auf die lange Bank geschoben hat. Das Zögern kann auch dazu führen, dass die Zentralbank angesichts hartnäckiger Inflation die Zinsen aggressiver erhöhen muss als das der Wirtschaft gut tut. Ein früherer Zinsschritt hätte dazu beitragen können, dass sich die Inflationserwartungen nicht zu verfestigen drohen – und der EZB nun mehr Spielraum gegeben.
Zinserhöhungen sind das klassische Mittel gegen Inflation. Sie dämpfen die Preise, indem sie das Wirtschaftswachstum bremsen. Und das ist das Problem mit diesem Werkzeug: Die gesamtwirtschaftliche Nachfrage geht zurück, weil Kredite teurer werden und Sparen attraktiver wird. Unternehmen investieren weniger, Konsumenten geben weniger Geld aus. Das bremst die Konjunktur und sorgt tendenziell für höhere Arbeitslosigkeit. „Es ist ein bisschen so, als würde man (in Zeitlupe) mit einem Hammer auf die gesamte Wirtschaft hauen“, drückt das der Thinktank „Dezernat Zukunft“ aus.
Höhere Zinsen sind nicht nur keine filigrane Methode, um Inflation zu bekämpfen. Sie wirken auch in verschiedenen Bevölkerungsgruppen unterschiedlich. Tendenziell führen sie zu Jobverlusten, es wird deshalb schwieriger, höhere Löhne durchzusetzen. Das gilt besonders für Arbeitnehmer mit befristeten Verträgen oder für Geringqualifizierte. Etwa in Pflegeberufen, bei Lieferdiensten oder in der Fleischindustrie können Unternehmen so leichter geringere Löhne durchsetzen.
Für Menschen, die in solchen Branchen arbeiten, können Zinserhöhungen daher eher schlecht sein. Für Beamte und Angestellte mit unbefristetem Vertrag und festem Arbeitsplatz sind sie in dieser Hinsicht unbedeutend. Sie profitieren davon sogar, wenn sie dadurch für ihren Friseurbesuch oder ihre Liefer-Pizza nicht mehr Geld ausgeben müssen. Ein weiteres Beispiel: Für Sparer sind höhere Zinsen eine gute Nachricht. Wer sich eine Wohnung kaufen möchte, dürfte aber nicht besonders erfreut sein.
Geldwertstabilität ist ein hohes Gut
Das heißt nicht, dass Zinserhöhungen im September ein Fehler wären. Die Geldpolitik der EZB ist auch damit immer noch sehr expansiv. Geldwertstabilität ist außerdem ein hohes Gut. Es ist der Job der Zentralbanker, für stabile Preise zu sorgen.
Doch Zinserhöhungen haben ihren Preis. In den ersten drei Monaten des Jahres war die Wirtschaft der Eurozone im Vergleich zum Vorquartal lediglich um 0,3 Prozent gewachsen. Der russische Angriffskrieg wird die wirtschaftliche Erholung von den Folgen der Corona-Pandemie weiter dämpfen. Da Zinserhöhungen nicht sofort, sondern mit einer Verzögerung zwischen 12 und 18 Monaten wirken, heißt das: Im schlimmsten Fall würden die Schritte erst ihre Wirkung entfalten, wenn sich die Eurozone wegen eines Gas-Lieferstopps des Kremls ohnehin schon in einer Rezession befindet.
Dieser Beitrag ist zuerst auf ntv.de erschienen.